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29.05.2007 BASTARD   MAILING   LIST   © Florian Schiel
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Chocolate
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"Wir leben in interessanten Zeiten!" 
Das versucht vermutlich jede neue Generation sich erneut einzureden, und: 
"Früher war alles besser!" 
ist auch so ein Dauerbrenner. 
Unverbesserliche Optimisten dagegen tendieren zur Ansicht, daß 
"... der Mensch Fortschritte mache", 
und sie geben dann leuchtende Beispiele wie Antibiotika, Kernkraftwerke und Coca-Cola. 
Kaum jemand ist der glücklichen (oder auch unglücklichen) Lage wie unsereines, die Situation objektiv betrachten zu können. Als Bastard und ehemaliger Angehöriger der Himmlischen Heerscharen hatte ich genug Zeit, die 'Entwicklung' der menschlichen Kultur hautnah mitverfolgen zu können. Und ich kann euch verraten - aber gebt es bloß nicht weiter; vor allem nicht an irgendwelche Feuilleton-Schreiber -: 
In dem letzten 5000 Jahren hat sich kaum etwas ernsthaft verändert! 
Nehmen wir zum Beispiel das allseits beliebte Lynch- und Opferwesen. Der semantische Begriff des 'Sündenbocks' ist vermutlich einer der ältesten überhaupt. Für den Durchschnittsmenschen aller Epochen stellt sich die Sache ungefähr so dar: 
"Ständig passiert etwas. Meistens passiert etwas Unangenehmes. Ich selber kann daran nicht schuld sein, weil das meinem Ego schaden würde. Folglich muß es jemand anderen außer mir geben, der daran schuld sein muß! Let's go and find the sucker and nail him!" 
(Nebenbei bemerkt ist das auch ein verdammt guter Beweis gegen den philosophischen Solipsismus!) 
Je nach kultureller Ausprägung wurden Götter, Jungfrauen, Tiere oder Ausländer als Sündenböcke zur Rechenschaft gezogen. Egal wer oder was angeklagt, geopfert, gelyncht oder aufgefressen wurde - Hauptsache, man hatte hinterher das befriedigende Gefühl, daß irgendjemand die Verantwortung für den letzten Vulkanausbruch übernommen hatte. 
Heutzutage teilen sich im Wesentlichen zwei Berufsgruppen die Aufgabe des Sündenbocks: Politiker und Spitzenmanager. 
Es mag zunächst erstaunen, daß diese ihre Aufgabe als Sündenbock - im krassen Gegensatz zu früheren Zeiten - vollkommen freiwillig erledigen. Andererseits sehen die Methoden, wie heutzutage mit Sündenböcken umgegangen wird, auch etwas freundlicher aus als zum Beispiel zur Zeit der Hexenverbrennungen. Anstatt jemanden auf möglichst grausame und fotogene Art zu Tode zu bringen, werden heutige Sündenböcke zuerst einmal in riesigen Geldhaufen fast erstickt und dann flugs auf eine neue Position gehievt, in der sie alsbald einen prima neuen Sündenbock abgeben können. Insofern könnte man tatsächlich von einer Art Fortschritt reden: immerhin haben die Menschen den recycling-fähigen Sündenbock erfunden. 
Wie bitte? Ich fasele schon wieder? 
Und was ist mit der allseits bekannten Elektrofirma im süddeutschen Raum, die mit 'S' beginnt und mit 'iemens' aufhört? Erster Sündenbock: von Pierer - raus aus dem Aufsichtsrat (der technisch gesehen überhaupt nichts mit der Sachlage zu tun hat)! Und als die aufgebrachte Volksseele bzw. die Journaille weiter vor sich hin brodelt, schickt man flugs den Kleinfeld auch noch in den Wald - so als ob man CEOs von den Bäumen schütteln könnte! 
Ich gehe jede Wette ein, daß die beiden erstens so hohe Abfindungen bekommen, daß man damit die ganze Handy-Sparte von Siemens ein paar Monate länger hätte finanzieren können, und zweitens daß die beiden spätestens nächstes Jahr woanders wieder voll im Geschäft sein werden. 
Warum erzähle ich euch das Ganze überhaupt? 
Kann mir doch scheißegal sein, wie es die anderen Bastards treiben! Hauptsache, sie machen ihre Sache bastardmäßig gut ... 
Stimmt! Aber für euch, die Bastard-Fans, könnte das hier eine LEERE sein: man muß ständig mit diesem angeborenen Trieb der Sündenbocksuche rechnen; dann lebt es sich sehr viel einfacher! Ein erfolgreicher Bastard hat die entsprechenden Reflexe praktisch mit eingebaut. 
Zu welcher Katastrophe es kommen kann, wenn man mal aus purer Schlamperei nicht die richtigen Sündenböcke parat hat, zeigt die folgende Episode. 
Marianne stürmt ohne anzuklopfen in mein Allerheiligstes, und ich schrecke aus der Hängematte hoch. Ein rascher Scan zeigt, daß sie ihren Titan-Posaunenkasten nicht dabei hat, also bleibe ich erstmal liegen. 
"Wieso sind meine Finite-Elemente-Simulationen auf einmal so langsam?!" 
fragt Marianne drohend. 
Die korrekte Antwort wäre: Weil ich gestern Nacht Platz für die ganzen Video-Raubkopien auf dem Server brauchte und ich deshalb die doofen Zwischenergebnisse deiner Ge-fickten-Elemente-Perversionen gelöscht habe, und die Dinger jetzt erst neu berechnet werden müssen! 
Könnt IHR euch vorstellen, was passiert, wenn ich das jetzt einfach so sagen würde? 
Glaubt mir, ihr könnt es euch NICHT vorstellen! Ihr WOLLT es euch auch gar nicht vorstellen! Ihr wollt am besten gar nicht hier, sondern in Australien oder sonst wo, aber auf jeden Fall GANZ, GANZ weit weg von Marianne sein! Glaubt mir! 
Das Dumme ist nur ... ich habe gerade einen akuten Blackout in puncto Sündenbock. Mir fällt schlicht und einfach nix passendes ein! 
"Äh ...", 
sage ich und huste ausgiebig, um ein paar Millisekunden Zeit zu gewinnen. Marianne allerdings nutzt die Pause, um mir gefährlich nahe zu rücken. Ich kann das typische Glitzern in ihren Augen sehen, das einen Wutanfall ankündigt. Mit dem rechten Fuß schiebt sie ein paar ausgeweidete 19-Zoll-Server-Gehäuse beiseite - vermutlich damit sie in der kommenden Auseinandersetzung mehr Beinfreiheit hat. Mein Gehirn, das vor zehn Sekunden noch im 120-Prozent-Relax-Modus war, arbeitet fieberhaft an einer plausiblen Erklärung, aber alles was mir einfällt, ist ein lahmes: 
"Äh ... das muß an der verminderten Taktfrequenz liegen ..." 
Marianne starrt mich mit offenem Mund und hervortretenden Augen an, und einen kurzen Moment lang hoffe ich, daß die schier kosmische Idiotie dieser Ausrede bei ihr einen apoplektischen Anfall ausgelöst habe. Aber dann registriert mein peripheres Sehfeld den titaniumverstärkten Baseballschläger, den Marianne genüßlich hinter dem Rücken hervorholt, und mein Kleinhirn schaltet auf Alarmstufe rot! 
Fehler Nummer eins: Kein überzeugender Sündenbock parat! 
Fehler Nummer zwei: Bloß weil kein Posaunenkasten zu sehen ist, heißt das noch lange nicht, daß dein Gegner unbewaffnet ist! 
Habt ihr schon mal versucht, ganz schnell aus einer Hängematte zu entkommen? Ich kann euch nur raten: Falls ihr auch vorhabt, euch so ein Ding für's Büro anzuschaffen, dann solltet ihr das ein paar Mal üben! Ein Tipp: Turnschuhe neigen dazu, sich in der Hängematte zu verheddern! 
Während ich halb auf dem Boden liegend, die Füße noch in der Hängematte gefangen, die ersten Schläge in die Nieren bekomme, schreie ich verzweifelt: 
"Vielleicht war's nicht die Taktfrequenz ... bestimmt war's das SETI-Projekt, das ... Aua! Nein, warte: Microsoft hat sicher beim letzten Serverupdate wieder was versiebt! ... Aua! Oder ... oder es sind wieder Emails mit zu großen Attachments, die den Server ... Ein Wurm! Bestimmt ist es ein neuer W ... Aua! Scheiße, Marianne! Das tut doch weh!!" 
Endlich gelingt es mir, mich aus der Hängematte zu befreien, indem ich einfach aus dem Schuhen schlüpfe. Ein Hechtsprung, der jeden bengalischen Tiger vor Neid erblassen lassen würde, bringt mich an meinem Schreibtisch, wo ich mit letzter Kraft auf den MEB haue (MEB = 'Marianne Emergency Button'). Sofort löst sich von der Decke ein kleiner Metallkasten, der dort von einem Elektromagneten festgehalten wurde, und knallt mitten auf den Fußboden. Zehn riesige, haarige Wolfsspinnen schießen aus der Schachtel und verteilen sich auf der Suche nach einem sicheren Unterschlupf im Raum; eine versucht, in Mariannes linkes Hosenbein zu klettern. 
Später - ich bin gerade damit beschäftigt, die winzigen, batteriebetriebenen Spinnenmodelle wieder aufzuladen - ruft Frau Bezelmann an und erkundigt sich neugierig, was 
"... dasss gerade für ein ohrenzerreissssender Schschrei war?" 
Ich sage ihr wahrheitsgemäß(!), daß das Marianne gewesen sei, die in meinem Büro eine kleine, harmlose Spinne entdeckt habe. Frau Bezelmann, die für weibliche Arachnophobie gar nichts übrig hat, schnaubt verächtlich: 
"Ssso ein Geschschrei, blosss wegen einer Ssspinne!" 
Ich lausche dem gedämpften Poltern, das ein titaniumverstärkter Posaunenkasten erzeugt, wenn er mit voller Wucht gegen eine atombombensichere Bürotüre gedonnert wird, und seufze: 
"Ja, ist schon erstaunlich, wegen welcher Lapalien sich manche Leute so aufregen ..."
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