- "Wir leben in interessanten Zeiten!"
- Das versucht vermutlich jede neue Generation sich erneut einzureden,
und:
- "Früher war alles besser!"
- ist auch so ein Dauerbrenner.
Unverbesserliche Optimisten dagegen tendieren zur Ansicht,
daß
- "... der Mensch Fortschritte mache",
- und sie geben dann leuchtende Beispiele wie Antibiotika, Kernkraftwerke und
Coca-Cola.
Kaum jemand ist der glücklichen (oder auch unglücklichen) Lage wie
unsereines, die Situation objektiv betrachten zu können. Als Bastard und
ehemaliger Angehöriger der Himmlischen Heerscharen hatte ich genug Zeit,
die 'Entwicklung' der menschlichen Kultur hautnah mitverfolgen zu können.
Und ich kann euch verraten - aber gebt es bloß nicht weiter; vor
allem nicht an irgendwelche Feuilleton-Schreiber -:
In dem letzten 5000 Jahren hat sich kaum etwas ernsthaft
verändert!
Nehmen wir zum Beispiel das allseits beliebte Lynch- und Opferwesen. Der
semantische Begriff des 'Sündenbocks' ist vermutlich einer der
ältesten überhaupt. Für den Durchschnittsmenschen aller Epochen
stellt sich die Sache ungefähr so dar:
- "Ständig passiert etwas. Meistens passiert etwas Unangenehmes. Ich
selber kann daran nicht schuld sein, weil das meinem Ego schaden würde.
Folglich muß es jemand anderen außer mir geben, der daran schuld
sein muß! Let's go and find the sucker and nail
him!"
- (Nebenbei bemerkt ist das auch ein verdammt guter Beweis gegen den
philosophischen Solipsismus!)
Je nach kultureller Ausprägung wurden Götter, Jungfrauen, Tiere oder
Ausländer als Sündenböcke zur Rechenschaft gezogen. Egal wer oder
was angeklagt, geopfert, gelyncht oder aufgefressen wurde - Hauptsache, man
hatte hinterher das befriedigende Gefühl, daß irgendjemand die
Verantwortung für den letzten Vulkanausbruch übernommen
hatte.
Heutzutage teilen sich im Wesentlichen zwei Berufsgruppen die Aufgabe des
Sündenbocks: Politiker und Spitzenmanager.
Es mag zunächst erstaunen, daß diese ihre Aufgabe als
Sündenbock - im krassen Gegensatz zu früheren Zeiten -
vollkommen freiwillig erledigen. Andererseits sehen die Methoden, wie heutzutage
mit Sündenböcken umgegangen wird, auch etwas freundlicher aus als zum
Beispiel zur Zeit der Hexenverbrennungen. Anstatt jemanden auf möglichst
grausame und fotogene Art zu Tode zu bringen, werden heutige
Sündenböcke zuerst einmal in riesigen Geldhaufen fast erstickt und
dann flugs auf eine neue Position gehievt, in der sie alsbald einen prima neuen
Sündenbock abgeben können. Insofern könnte man tatsächlich
von einer Art Fortschritt reden: immerhin haben die Menschen den
recycling-fähigen Sündenbock erfunden.
Wie bitte? Ich fasele schon wieder?
Und was ist mit der allseits bekannten Elektrofirma im süddeutschen Raum,
die mit 'S' beginnt und mit 'iemens' aufhört?
Erster Sündenbock: von Pierer - raus aus dem Aufsichtsrat (der
technisch gesehen überhaupt nichts mit der Sachlage zu tun hat)! Und als
die aufgebrachte Volksseele bzw. die Journaille weiter vor sich hin brodelt,
schickt man flugs den Kleinfeld auch noch in den Wald - so als ob man CEOs
von den Bäumen schütteln könnte!
Ich gehe jede Wette ein, daß die beiden erstens so hohe Abfindungen
bekommen, daß man damit die ganze Handy-Sparte von Siemens ein paar Monate
länger hätte finanzieren können, und zweitens daß die
beiden spätestens nächstes Jahr woanders wieder voll im Geschäft
sein werden.
Warum erzähle ich euch das Ganze überhaupt?
Kann mir doch scheißegal sein, wie es die anderen Bastards treiben!
Hauptsache, sie machen ihre Sache bastardmäßig
gut ...
Stimmt! Aber für euch, die Bastard-Fans, könnte das hier eine LEERE
sein: man muß ständig mit diesem angeborenen Trieb der
Sündenbocksuche rechnen; dann lebt es sich sehr viel einfacher! Ein
erfolgreicher Bastard hat die entsprechenden Reflexe praktisch mit
eingebaut.
Zu welcher Katastrophe es kommen kann, wenn man mal aus purer Schlamperei nicht
die richtigen Sündenböcke parat hat, zeigt die folgende
Episode.
Marianne stürmt ohne anzuklopfen in mein Allerheiligstes, und ich schrecke
aus der Hängematte hoch. Ein rascher Scan zeigt, daß sie ihren
Titan-Posaunenkasten nicht dabei hat, also bleibe ich erstmal
liegen.
- "Wieso sind meine Finite-Elemente-Simulationen auf einmal so
langsam?!"
- fragt Marianne drohend.
Die korrekte Antwort wäre: Weil ich gestern Nacht Platz für die ganzen
Video-Raubkopien auf dem Server brauchte und ich deshalb die doofen
Zwischenergebnisse deiner Ge-fickten-Elemente-Perversionen gelöscht habe,
und die Dinger jetzt erst neu berechnet werden müssen!
Könnt IHR euch vorstellen, was passiert, wenn ich das jetzt einfach so
sagen würde?
Glaubt mir, ihr könnt es euch NICHT vorstellen! Ihr WOLLT es euch auch gar
nicht vorstellen! Ihr wollt am besten gar nicht hier, sondern in Australien oder
sonst wo, aber auf jeden Fall GANZ, GANZ weit weg von Marianne sein! Glaubt
mir!
Das Dumme ist nur ... ich habe gerade einen akuten Blackout in puncto
Sündenbock. Mir fällt schlicht und einfach nix passendes
ein!
- "Äh ...",
- sage ich und huste ausgiebig, um ein paar Millisekunden Zeit zu gewinnen.
Marianne allerdings nutzt die Pause, um mir gefährlich nahe zu rücken.
Ich kann das typische Glitzern in ihren Augen sehen, das einen Wutanfall
ankündigt. Mit dem rechten Fuß schiebt sie ein paar ausgeweidete
19-Zoll-Server-Gehäuse beiseite - vermutlich damit sie in der
kommenden Auseinandersetzung mehr Beinfreiheit hat. Mein Gehirn, das vor zehn
Sekunden noch im 120-Prozent-Relax-Modus war, arbeitet fieberhaft an einer
plausiblen Erklärung, aber alles was mir einfällt, ist ein
lahmes:
- "Äh ... das muß an der verminderten Taktfrequenz
liegen ..."
- Marianne starrt mich mit offenem Mund und hervortretenden Augen an, und
einen kurzen Moment lang hoffe ich, daß die schier kosmische Idiotie
dieser Ausrede bei ihr einen apoplektischen Anfall ausgelöst habe. Aber
dann registriert mein peripheres Sehfeld den titaniumverstärkten
Baseballschläger, den Marianne genüßlich hinter dem Rücken
hervorholt, und mein Kleinhirn schaltet auf Alarmstufe rot!
Fehler Nummer eins: Kein überzeugender Sündenbock
parat!
Fehler Nummer zwei: Bloß weil kein Posaunenkasten zu sehen ist,
heißt das noch lange nicht, daß dein Gegner unbewaffnet
ist!
Habt ihr schon mal versucht, ganz schnell aus einer Hängematte zu
entkommen? Ich kann euch nur raten: Falls ihr auch vorhabt, euch so ein Ding
für's Büro anzuschaffen, dann solltet ihr das ein paar Mal üben!
Ein Tipp: Turnschuhe neigen dazu, sich in der Hängematte zu
verheddern!
Während ich halb auf dem Boden liegend, die Füße noch in der
Hängematte gefangen, die ersten Schläge in die Nieren bekomme, schreie
ich verzweifelt:
- "Vielleicht war's nicht die Taktfrequenz ... bestimmt war's das
SETI-Projekt, das ... Aua! Nein, warte: Microsoft hat sicher beim letzten
Serverupdate wieder was versiebt! ... Aua! Oder ... oder es sind
wieder Emails mit zu großen Attachments, die den Server ... Ein Wurm!
Bestimmt ist es ein neuer W ... Aua! Scheiße, Marianne! Das tut doch
weh!!"
- Endlich gelingt es mir, mich aus der Hängematte zu befreien, indem ich
einfach aus dem Schuhen schlüpfe. Ein Hechtsprung, der jeden bengalischen
Tiger vor Neid erblassen lassen würde, bringt mich an meinem Schreibtisch,
wo ich mit letzter Kraft auf den MEB haue (MEB = 'Marianne Emergency Button').
Sofort löst sich von der Decke ein kleiner Metallkasten, der dort von einem
Elektromagneten festgehalten wurde, und knallt mitten auf den Fußboden.
Zehn riesige, haarige Wolfsspinnen schießen aus der Schachtel und
verteilen sich auf der Suche nach einem sicheren Unterschlupf im Raum; eine
versucht, in Mariannes linkes Hosenbein zu klettern.
Später - ich bin gerade damit beschäftigt, die winzigen,
batteriebetriebenen Spinnenmodelle wieder aufzuladen - ruft Frau Bezelmann
an und erkundigt sich neugierig, was
- "... dasss gerade für ein ohrenzerreissssender Schschrei
war?"
- Ich sage ihr wahrheitsgemäß(!), daß das Marianne gewesen
sei, die in meinem Büro eine kleine, harmlose Spinne entdeckt habe. Frau
Bezelmann, die für weibliche Arachnophobie gar nichts übrig hat,
schnaubt verächtlich:
- "Ssso ein Geschschrei, blosss wegen einer
Ssspinne!"
- Ich lausche dem gedämpften Poltern, das ein titaniumverstärkter
Posaunenkasten erzeugt, wenn er mit voller Wucht gegen eine atombombensichere
Bürotüre gedonnert wird, und seufze:
- "Ja, ist schon erstaunlich, wegen welcher Lapalien sich manche Leute
so aufregen ..."
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