---
26.04.2005 BASTARD   MAILING   LIST   © Florian Schiel
zurück 
Coupons
Horrorskop weiter 
Tequila
---  
Ich linse vorsichtig aus der geöffneten U-Bahntüre. Auf der Rolltreppe am anderen Ende des Bahnsteigs sehe ich ein paar Studenten, aber die scheinen mich nicht bemerkt zu haben. Der Bahnsteig scheint clean zu sein, und ich sprinte in Richtung Behindertenaufzug. Es sind keine 15 Meter mehr bis zum Fahrstuhl, da biegt eine kleine Studentin um die Ecke. Ihr Blick fällt auf mich und ihr Gesicht verwandelt sich in ein einziges hoffnungsvolles Leuchten. Sie reißt ihren Rucksack vom Rücken und ruft etwas, was ich nicht verstehe und auch gar nicht verstehen will. Ich hechte in den offenen Aufzug und hämmere verzweifelt auf den Knopf. Gerade noch rechtzeitig schließen sich die Türen. Die Studentin steht draußen, hüpft aufgeregt auf und ab und schreit durch die Glastür: 
"Ach bitte ... bitte Herr Leisch ... würden Sie ... könnten Sie nicht ... nur ganz kurz ... wir könnten doch gleich hier im Aufzug ..." 
Während sie das hervorsprudelt, hält sie eine Orange in die Höhe und wirft mir flehende Blicke zu. Zum Glück fährt der Aufzug unbeeindruckt nach oben. Ich klappe den Kragen meines Mantels hoch und stürme mit gesenktem Blick zum nächst gelegenen Uni-Eingang. Drei Korridore und zwei Treppen weiter bin ich mir sicher, die Studentin abgehängt zu haben. Fatal ist allerdings, daß sie mich erkannt hat: die Nachricht wird sich in Windeseile über den ganzen Campus verbreiten, und überall werden Studentinnen nach mir Ausschau halten. Immerhin gelingt es mir, mich unerkannt bis ins Physik-Department vorzuarbeiten. Dann aber hilft alles nichts: um zum LEERstuhl zu gelangen, muß ich über die offene Schellingstraße. Die ersten 20 Meter scheint alles glatt zu laufen. Dann plötzlich: ein schriller Schrei aus der Richtung des U-Bahnschachts, mehrstimmiges Gekreische antwortet vom Haupteingang her, und eine Masse entfesselter Studentinnen rast wie eine apokalyptische Tsunami die Schellingstraße herunter auf mich zu. Alle schwenken Grapefruits, Orangen, Melonen, Kiwis, Passionsfrüchte und Schlimmeres. Alle schreien - nein: kreischen meinen Namen. Hunderte Stöckelschuhe auf dem Pflaster erzeugen ein Geräusch wie von einem unkoordinierten Indianerangriff, der Boden zittert, Bäuche tanzen, Busen wogen auf mich zu. Es ist ein Albtraum! 
Ich schaffe es mit Ach und Krach in die Englische Buchhandlung und verbarrikadiere den Eingang mit einem Schirmständer. An der totenblassen und sprachlosen Verkäuferin vorbei renne ich zum Notausgang, der in unsere Empfangshalle führt, und von dort aus weiter in Richtung LEERstuhl. Die Pförtnerin erkennt mich und stürzt mit einer halben Wassermelone aus ihrem Glaskasten. 
"Herr Leisch!" 
ruft sie hoffnungsvoll, aber ich bin schon im Treppenhaus. Auf dem dritten Treppenabsatz steht Frau Bezelmann mit dem Raben Nero auf der Schulter. Sie trägt einen Stahlhelm in Tarnfarben und in den Händen hält sie - der Hölle sei Dank! - keine Zitrusfrucht, sondern einen Feuerwehrschlauch. Mit einer knappen Kopfbewegung bedeutet sie mir, im LEERstuhl Deckung zu nehmen, und während ich zu meinem Allerheiligsten laufe, höre ich hinter mir das Fauchen des C-Rohres und vielstimmige im Wasserschwall erstickte Schreie. 
Zahlreiche zermantschte Früchte vor meiner Bürotür und eine riesige Pfütze lassen erkennen, daß Frau Bezelmann wohl erst kurz vorher den LEERstuhl von Früchteträgern gesäubert hat. 
Ich flüchte in mein Allerheiligstes, drehe zweimal den Schlüssel herum und atme auf. Gerettet! Vorläufig zumindest! 
Wie konnte es zu diesen bacchantischen Ausbrüchen weiblicher Emotionen kommen? 
Wie immer bin ich völlig unschuldig in diese Sache hinein geraten, auch wenn Frau Bezelmann meint, ich hätte es wegen meiner Boshaftigkeit gegenüber Jenny nicht anders verdient ... 
Nein, es liegt nicht an meinem neuen After-Shave, danke der Nachfrage! Ich bin auch nicht aus heiterem Himmel zum Bastard des Jahres gekürt worden! Und hat auch nichts mit Cybersex oder Massenhypnose per Email zu tun! Am besten erzähle ich ganz von vorne, was passiert ist. 
Angefangen hat es vollkommen harmlos: Für meine 'Half-Life'-Environment-Dateien war nicht mehr genug Platz auf dem Fileserver, und ich ließ wie immer in solchen Situationen ein kleines Skript laufen, daß per Zufallsauswahl 5 GB Daten aus dem Filesystem schießt. 
Zufälligerweise erwischte ich dabei auch Jennys Horoskop-Software, die sie praktisch stündlich konsultiert (böse Zungen behaupten, daß Jenny nur deshalb nie einen Mann abkriegt, weil sie vor jeder Entscheidung ihre Software konsultieren muß: 'Liebt er mich oder nicht? Soll ich heute mit ihm ins Bett oder besser nicht? Mit Verhütung oder ohne ...?'). Peinlicherweise erwischte mich Jenny quasi in flagranti, weil gerade in dem Moment, als sie die Software starten wollte, diese für immer ins Software-Nirwana diffundierte. 
Jenny kreuzte also sofort bei mir auf und machte Terz. Ich sagte das Naheliegendste, nämlich: 
"Ist doch kein Problem. Dann installieren wir halt neu!" 
War aber doch ein Problem, weil auch alle über die Jahre angesammelten Jenny-Horoskop-Daten weg; und weil ich zu faul bin, jeden Scheiß auf dem Datengrab zu sichern, natürlich auch kein Backup! 
Auf diese Info hin machte Jenny logischerweise noch mehr Terz und fing an, die Krallen zu auszufahren. Um sie zu besänftigen (und meine zarte Gesichtshaut zu retten), schlug ich aus dem Stegreif eine Alternative vor: Wie wär's denn mit Wahrsagen? 
"Du hast doch anstatt was zu Essen immer so ein paar Früchte zum Mittagessen", 
sagte ich. 
"Ist da vielleicht eine Orange oder Grapefruit dabei?" 
Tatsächlich hatte sie eine Grapefruit, und ich sagte ihr, daß sie sie herholen solle. 
Während Jenny unterwegs war, ließ ich die Rollos herunter und versteckte den alten Tesla-Transformator aus dem früheren Physiklabor unter dem Tisch. 
Jenny brachte eine gammelige Grapefruit (Bio! Yuck!) und ich drapierte sie umständlich auf den Tisch, genau über dem Transformator. Dann bat ich Jenny ihre linke Hand über die Grapfruit zu halten, die Augen zu schließen und konzentriert an ihre Wünsche und Probleme zu denken. Nach wenigen Sekunden hatte sich die Grapefruit so mit statischer Elektrizität vollgesogen, daß sich die Härchen auf Jennys Unterarm aufstellten und sie schließlich einen hübschen Lichtbogen in den Daumen verpaßt bekam. 
"Ausgezeichnet", 
sagte ich zufrieden. 
"Das war schon die notwendige Transmogrifikation deiner Persönlichkeit in die Aura der Frucht. Jetzt können wir beginnen." 
Ich schnitt die Grapefruit in zwei Teile und weissagte der atemlosen Jenny das Blaue vom Himmel herunter: 
"Ah ... hmm ... der mittlere Stamm ist dreifach gespalten ... das bedeutet mindestens drei Kinder ... diese breite Sektion im Süden ist dein erotisches Potential ... sieht so aus, als ob deine weibliche Ausstrahlung viele Männer überwältigen würde ... dieser kleine Einschluß im Westen deutet an, daß es für dich bald keine finanziellen Sorgen mehr geben wird ... blablabla laber fasel ..." 
Keine fünf Minuten von diesem Gesülze, und Jenny zog sprachlos vor Glück aus meinem Büro ab. 
Und ich dachte erleichtert, damit wäre die Sache ausgestanden. 
Wie naiv! 
Zwei Tage später erzählte mir Frau Bezelmann genüßlich, daß Jenny noch am selben Abend 'ihren Mann fürs Leben' getroffen hätte. Placebo-Effekt, dachte ich und zuckte mit den Achseln. Als ich aber tags darauf einen glühenden Tatsachenbericht Jennys inklusive aller Details der 'Grapefruit-Wahrsagung' im Uni-Forum fand, wurde es mir mulmig. 
Seitdem habe ich kaum eine ruhige Minute mehr gehabt. An allen Ecken und Enden des Campus lauern mit Früchten bewaffnete Studentinnen auf mich! Ich kann nicht mal mehr zum Kaffeeautomaten gehen, ohne daß ich mit Passionsfrüchten eingedeckt werde! 
Ich aktiviere die Schutzschilde und denke scharf nach. 
Als erstes scanne ich Jennys Mailbox nach dem Namen ihres neuen Lovers und setze ihn auf die Fahndungsliste des BKA, Rubrik 'Extrem Gefährlich'. Es besteht ja die vage Hoffnung, daß die enttäuschte Jenny einen Widerruf im Uni-Forum schreibt, wenn ihr Traumprinz sich als Serienkiller entpuppt. Dann schreibe ich einen gefälschten Erlebnisbericht für das Uni-Forum, in welchem eine angebliche Studentin von einer haarsträubenden Unglücksserie nach einer Früchte-Wahrsagung berichtet. Laut dem Bericht liegt die Autorin jetzt für mindestens 6 Monate im Krankenhaus und es ist mehr als fraglich, ob sie in ihrem Leben jemals wieder eine Beziehung anfangen wird. 
Schließlich hacke ich mich in den Fileserver der Hausinspektion und füge einen neuen Paragraphen in die Hausordnung ein, der das Mitführen von Früchten jeder Art auf dem Campus mit Exmatrikulation bedroht. In einer Email an den 'Obersten der Klingonen' (Leiter der Hausinspektion) weise ich ausdrücklich auf diesen Paragraphen hin, beklage vehement, daß ich in unserem Gebäude andauernd Personen mit illegalen Früchten antreffen würde, und verlange dringend ständige Kontrollen bis hin zu Leibesvisitationen durch seine 'Klingonen'. 
Die Hausmeister werden begeistert sein; man kann ja unschwer vorhersehen, wo eine pubertäre Studentin ein paar Orangen verstecken wird!
---
zurück 
Coupons
zur B.M.L. Homepage   zum Seitenbeginn weiter 
Tequila
---
Copyright © Florian Schiel