- Ich linse vorsichtig aus der geöffneten U-Bahntüre. Auf der
Rolltreppe am anderen Ende des Bahnsteigs sehe ich ein paar Studenten, aber die
scheinen mich nicht bemerkt zu haben. Der Bahnsteig scheint clean zu sein, und
ich sprinte in Richtung Behindertenaufzug. Es sind keine 15 Meter mehr bis
zum Fahrstuhl, da biegt eine kleine Studentin um die Ecke. Ihr Blick fällt
auf mich und ihr Gesicht verwandelt sich in ein einziges hoffnungsvolles
Leuchten. Sie reißt ihren Rucksack vom Rücken und ruft etwas, was
ich nicht verstehe und auch gar nicht verstehen will. Ich hechte in den offenen
Aufzug und hämmere verzweifelt auf den Knopf. Gerade noch rechtzeitig
schließen sich die Türen. Die Studentin steht draußen,
hüpft aufgeregt auf und ab und schreit durch die
Glastür:
- "Ach bitte ... bitte Herr Leisch ... würden Sie ...
könnten Sie nicht ... nur ganz kurz ... wir könnten doch
gleich hier im Aufzug ..."
- Während sie das hervorsprudelt, hält sie eine Orange in die
Höhe und wirft mir flehende Blicke zu. Zum Glück fährt der
Aufzug unbeeindruckt nach oben. Ich klappe den Kragen meines Mantels hoch und
stürme mit gesenktem Blick zum nächst gelegenen Uni-Eingang. Drei
Korridore und zwei Treppen weiter bin ich mir sicher, die Studentin
abgehängt zu haben. Fatal ist allerdings, daß sie mich erkannt hat:
die Nachricht wird sich in Windeseile über den ganzen Campus verbreiten,
und überall werden Studentinnen nach mir Ausschau halten. Immerhin gelingt
es mir, mich unerkannt bis ins Physik-Department vorzuarbeiten. Dann aber hilft
alles nichts: um zum LEERstuhl zu gelangen, muß ich über die offene
Schellingstraße. Die ersten 20 Meter scheint alles glatt zu laufen.
Dann plötzlich: ein schriller Schrei aus der Richtung des U-Bahnschachts,
mehrstimmiges Gekreische antwortet vom Haupteingang her, und eine Masse
entfesselter Studentinnen rast wie eine apokalyptische Tsunami die
Schellingstraße herunter auf mich zu. Alle schwenken Grapefruits,
Orangen, Melonen, Kiwis, Passionsfrüchte und Schlimmeres. Alle
schreien - nein: kreischen meinen Namen. Hunderte Stöckelschuhe auf
dem Pflaster erzeugen ein Geräusch wie von einem unkoordinierten
Indianerangriff, der Boden zittert, Bäuche tanzen, Busen wogen auf mich
zu. Es ist ein Albtraum!
Ich schaffe es mit Ach und Krach in die Englische Buchhandlung und
verbarrikadiere den Eingang mit einem Schirmständer. An der totenblassen
und sprachlosen Verkäuferin vorbei renne ich zum Notausgang, der in unsere
Empfangshalle führt, und von dort aus weiter in Richtung LEERstuhl. Die
Pförtnerin erkennt mich und stürzt mit einer halben Wassermelone aus
ihrem Glaskasten.
- "Herr Leisch!"
- ruft sie hoffnungsvoll, aber ich bin schon im Treppenhaus. Auf dem dritten
Treppenabsatz steht Frau Bezelmann mit dem Raben Nero auf der Schulter. Sie
trägt einen Stahlhelm in Tarnfarben und in den Händen hält
sie - der Hölle sei Dank! - keine Zitrusfrucht, sondern einen
Feuerwehrschlauch. Mit einer knappen Kopfbewegung bedeutet sie mir, im
LEERstuhl Deckung zu nehmen, und während ich zu meinem Allerheiligsten
laufe, höre ich hinter mir das Fauchen des C-Rohres und vielstimmige im
Wasserschwall erstickte Schreie.
Zahlreiche zermantschte Früchte vor meiner Bürotür und eine
riesige Pfütze lassen erkennen, daß Frau Bezelmann wohl erst kurz
vorher den LEERstuhl von Früchteträgern gesäubert
hat.
Ich flüchte in mein Allerheiligstes, drehe zweimal den Schlüssel
herum und atme auf. Gerettet! Vorläufig zumindest!
Wie konnte es zu diesen bacchantischen Ausbrüchen weiblicher Emotionen
kommen?
Wie immer bin ich völlig unschuldig in diese Sache hinein geraten, auch
wenn Frau Bezelmann meint, ich hätte es wegen meiner Boshaftigkeit
gegenüber Jenny nicht anders verdient ...
Nein, es liegt nicht an meinem neuen After-Shave, danke der Nachfrage! Ich bin
auch nicht aus heiterem Himmel zum Bastard des Jahres gekürt worden! Und
hat auch nichts mit Cybersex oder Massenhypnose per Email zu tun! Am besten
erzähle ich ganz von vorne, was passiert ist.
Angefangen hat es vollkommen harmlos: Für meine
'Half-Life'-Environment-Dateien war nicht mehr genug Platz auf dem Fileserver,
und ich ließ wie immer in solchen Situationen ein kleines Skript laufen,
daß per Zufallsauswahl 5 GB Daten aus dem Filesystem
schießt.
Zufälligerweise erwischte ich dabei auch Jennys Horoskop-Software, die sie
praktisch stündlich konsultiert (böse Zungen behaupten, daß
Jenny nur deshalb nie einen Mann abkriegt, weil sie vor jeder Entscheidung ihre
Software konsultieren muß: 'Liebt er mich oder nicht? Soll ich heute mit
ihm ins Bett oder besser nicht? Mit Verhütung oder ohne ...?').
Peinlicherweise erwischte mich Jenny quasi in flagranti, weil gerade in dem
Moment, als sie die Software starten wollte, diese für immer ins
Software-Nirwana diffundierte.
Jenny kreuzte also sofort bei mir auf und machte Terz. Ich sagte das
Naheliegendste, nämlich:
- "Ist doch kein Problem. Dann installieren wir halt
neu!"
- War aber doch ein Problem, weil auch alle über die Jahre angesammelten
Jenny-Horoskop-Daten weg; und weil ich zu faul bin, jeden Scheiß auf dem
Datengrab zu sichern, natürlich auch kein Backup!
Auf diese Info hin machte Jenny logischerweise noch mehr Terz und fing
an, die Krallen zu auszufahren. Um sie zu besänftigen (und meine zarte
Gesichtshaut zu retten), schlug ich aus dem Stegreif eine Alternative vor:
Wie wär's denn mit Wahrsagen?
- "Du hast doch anstatt was zu Essen immer so ein paar Früchte zum
Mittagessen",
- sagte ich.
- "Ist da vielleicht eine Orange oder Grapefruit
dabei?"
- Tatsächlich hatte sie eine Grapefruit, und ich sagte ihr, daß
sie sie herholen solle.
Während Jenny unterwegs war, ließ ich die Rollos herunter und
versteckte den alten Tesla-Transformator aus dem früheren Physiklabor
unter dem Tisch.
Jenny brachte eine gammelige Grapefruit (Bio! Yuck!) und ich drapierte sie
umständlich auf den Tisch, genau über dem Transformator. Dann bat ich
Jenny ihre linke Hand über die Grapfruit zu halten, die Augen zu
schließen und konzentriert an ihre Wünsche und Probleme zu denken.
Nach wenigen Sekunden hatte sich die Grapefruit so mit statischer
Elektrizität vollgesogen, daß sich die Härchen auf Jennys
Unterarm aufstellten und sie schließlich einen hübschen Lichtbogen
in den Daumen verpaßt bekam.
- "Ausgezeichnet",
- sagte ich zufrieden.
- "Das war schon die notwendige Transmogrifikation deiner Persönlichkeit
in die Aura der Frucht. Jetzt können wir
beginnen."
- Ich schnitt die Grapefruit in zwei Teile und weissagte der atemlosen Jenny
das Blaue vom Himmel herunter:
- "Ah ... hmm ... der mittlere Stamm ist dreifach
gespalten ... das bedeutet mindestens drei Kinder ... diese breite
Sektion im Süden ist dein erotisches Potential ... sieht so aus, als
ob deine weibliche Ausstrahlung viele Männer überwältigen
würde ... dieser kleine Einschluß im Westen deutet an,
daß es für dich bald keine finanziellen Sorgen mehr geben
wird ... blablabla laber fasel ..."
- Keine fünf Minuten von diesem Gesülze, und Jenny zog sprachlos
vor Glück aus meinem Büro ab.
Und ich dachte erleichtert, damit wäre die Sache
ausgestanden.
Wie naiv!
Zwei Tage später erzählte mir Frau Bezelmann genüßlich,
daß Jenny noch am selben Abend 'ihren Mann fürs Leben' getroffen
hätte. Placebo-Effekt, dachte ich und zuckte mit den Achseln. Als ich aber
tags darauf einen glühenden Tatsachenbericht Jennys inklusive aller
Details der 'Grapefruit-Wahrsagung' im Uni-Forum fand, wurde es mir
mulmig.
Seitdem habe ich kaum eine ruhige Minute mehr gehabt. An allen Ecken und Enden
des Campus lauern mit Früchten bewaffnete Studentinnen auf mich! Ich kann
nicht mal mehr zum Kaffeeautomaten gehen, ohne daß ich mit
Passionsfrüchten eingedeckt werde!
Ich aktiviere die Schutzschilde und denke scharf nach.
Als erstes scanne ich Jennys Mailbox nach dem Namen ihres neuen Lovers und
setze ihn auf die Fahndungsliste des BKA, Rubrik 'Extrem Gefährlich'. Es
besteht ja die vage Hoffnung, daß die enttäuschte Jenny einen
Widerruf im Uni-Forum schreibt, wenn ihr Traumprinz sich als Serienkiller
entpuppt. Dann schreibe ich einen gefälschten Erlebnisbericht für das
Uni-Forum, in welchem eine angebliche Studentin von einer haarsträubenden
Unglücksserie nach einer Früchte-Wahrsagung berichtet. Laut dem
Bericht liegt die Autorin jetzt für mindestens 6 Monate im
Krankenhaus und es ist mehr als fraglich, ob sie in ihrem Leben jemals wieder
eine Beziehung anfangen wird.
Schließlich hacke ich mich in den Fileserver der Hausinspektion und
füge einen neuen Paragraphen in die Hausordnung ein, der das
Mitführen von Früchten jeder Art auf dem Campus mit Exmatrikulation
bedroht. In einer Email an den 'Obersten der Klingonen' (Leiter der
Hausinspektion) weise ich ausdrücklich auf diesen Paragraphen hin, beklage
vehement, daß ich in unserem Gebäude andauernd Personen mit
illegalen Früchten antreffen würde, und verlange dringend
ständige Kontrollen bis hin zu Leibesvisitationen durch seine
'Klingonen'.
Die Hausmeister werden begeistert sein; man kann ja unschwer vorhersehen,
wo eine pubertäre Studentin ein paar Orangen verstecken wird!
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