- Ich sitze in der 'Anarchie', nippe an meinem dritten Martini und
blättere zerstreut in einer Diplomarbeit. Seit ich beschlossen habe,
unumgängliche Korrekturarbeiten (d.h. Diplomarbeiten kurz vor den
natürlichen Zerfall) in dieser Bar durchzuführen, hat sich der
mittlere Notenspiegel und meine Laune um mindestens zwei Notenstufen
verbessert. Leider ist mir noch kein Trick eingefallen, wie ich die
regelmäßigen Besuche hier als Dienstgänge mit Spesenerstattung
deklarieren könnte - aber noch ist nicht aller Tage
Abend.
Die 'Anarchie' ist eine Post-post-post-68iger-Kneipe, die ich erst vor kurzem
in einem Winkel Schwabings entdeckt habe, in den sich nicht einmal japanische
Touristen verirren. Die Einrichtung besteht aus vergilbten
Flower-Power-Plakaten und zerschlissenen 60iger Jahre Sofas, die vermutlich
noch aus den Zeiten stammen, als in München noch die Sperrmüllkultur
florierte. Die Musik ist leise, hauptsächlich Blues mit einen
gelegentlichen Einschub von 'Hair'. Aber die Martinis sind ok und das Risiko,
den Dekan oder jemanden von der Reisekostenstelle hier anzutreffen, ist relativ
gering. An der Bar, die aussieht, als hätte sie einen lebhaften Besuch der
Bader-Meinhoff-Gruppe überlebt, hängen hauptsächlich gefrustete
Physik- und Philosophiestudenten herum, dazwischen auch ein paar erstaunlich
attraktive Studentinnen, die vermutlich hoffen, in so einer Bar nicht
ständig von den typischen Schwabinger Salonhengsten angemacht zu
werden.
Ein Physiker mit dünnen Ziegenbart, der schräg gegenüber auf
seinem Barhocker hängt, erklärt mir unaufgefordert die Existenz einer
Bar, wie es die 'Anarchie' ist, damit, daß sie am 12. September 1969
durch ein Loch im Raum-Zeit-Kontinuum gefallen sei. Um zu demonstrieren, was er
meint, zieht er einen schon ziemlich ranzligen Schweizerkäse aus seinem
Rucksack (warum müssen Physiker eigentlich immer Rucksäcke tragen?
Vermutlich, um darin ranzligen Schweizerkäse aufzubewahren) und
demonstriert mir die berühmten Löcher.
Ich rege mich nicht weiter auf, weil unsere Physiker fast ständig mit so
einem Scheiß daher kommen, und weise lediglich darauf hin, daß der
Barkeeper Janus erst 1973 in Wuppertal geboren worden sei. Aber der Physiker
meint dazu nur kritisch, ob ich denn auch bei meiner wissenschaftlichen Arbeit
nicht-falsifizierbare Aussagen als gegebene Prämissen zulassen
würde.
Ich seufze und wende mich wieder meiner Diplomarbeit zu; zum Glück kann
ich bei dem schummrigen Licht hier in der 'Anarchie' kaum etwas erkennen. Janus
hat mir zwar schon mehrmals angeboten, eine Tischlampe auf die Bar zu
platzieren, aber ich habe dankend abgelehnt. In den meisten Fällen ist es
sowieso besser, wenn ich den Text nicht so deutlich lesen
kann.
Ein sehr dünner Herr in den Fünfzigern mit Sonnenbrille, grauem
Anzug, grauem Schirm und grauem Gesicht kommt durch den Hintereingang herein,
schaut sich einen Moment lang mißtrauisch um, nickt mir wortlos zu und
läßt sich dann in der dunkelsten Ecke der Bar in einem Ohrensessel
nieder, der mit dem Rücken zum Raum steht. Janus mixt unaufgefordert einen
doppelten Screwdriver und bringt ihn dem grauen Herrn in die Ecke. Nur wenige
in diesem Raum - mich eingeschlossen, weil ich ihm diese Bar empfohlen
habe - wissen, daß es sich bei diesem Herrn um den am meisten
gesuchten Mann Bayerns handelt. Sein Leben ist eine einzige Flucht durch
Hinterausgänge und Nebengassen; jedem Moment muß er damit rechnen,
erkannt zu werden und dann um sein Leben zu rennen. Hinter jeder Türe,
hinter jeder Ecke befürchtet er den Feind. Ruhig schlafen kann er schon
seit Monaten nicht mehr - außer hier in der Anarchie, wo er sich
relativ sicher wähnt.
Wie so oft in solchen Geschichten, ist er selber an dieser unglücklichen
Situation vollkommen unschuldig: ein braver Beamter im gehobenen Dienst,
ordentlich, pünktlich, sogar mit Parteibuch, der sich auf seine
wohlverdiente Frühpensionierung freute. Und dann die Katastrophe: er
fällt die Treppe hinauf, wird gleich drei Stufen zu weit befördert.
Plötzlich - er weiß selber nicht, wie es dazu kommen
konnte - ist er Präsident des Finanzreferats. Kaum hat er sich von
dem Schock erholt, fällt es unserem geliebten Landesvater Stoiber ein,
Bayern zum Mustersparstaat zu deklarieren. Seitdem hat unser frisch gebackener
Präsident keine ruhige Minute mehr: alle von den Sparmaßnahmen
betroffenen Amtsleiter, Oberregierungsdirektoren, Rektoren etc. sind hinter ihm
her, wie der Teufel hinter der verlorenen Seele.
Eines Tages, bei einem offiziellen Besuch der Universität, ist er wie
üblich auf der Flucht: der Rektor, der Kanzler und zwei Dutzend zu allem
entschlossene Dekane sind ihm dicht auf den Fersen, als er sich in meine
zufällig offen stehende Bürotüre rettet und die Tür hinter
sich zuknallt. Da an meiner Türe grundsätzlich ein rot umrandetes
Schutzschild hängt mit der Aufschrift:
- 'ACHTUNG! EXPERIMENT LÄUFT! AUF KEINEN FALL
EINTRETEN!'
- hetzt die steuergeldhungrige Meute tatsächlich an uns vorbei, ohne ihn
zu entdecken.
Ich habe ihm dann ein paar Tipps aus dem 'Leitfaden für den Bastard X
from Hell' gegeben und ihm die 'Anarchie' empfohlen. (Im Gegenzug hat er
diskret dafür gesorgt, daß mein Antrag zum Ausbau der audiovisuellen
Infrastruktur des LEERstuhls ohne nennenswerte Kürzungen genehmigt
wurde.)
Ein kurzer, heftiger Wortwechsel und ein unmißverständliches
Klatschen läßt mich wieder aufblicken. Offensichtlich ist einer der
Studenten einer der Ruhe suchenden Studentinnen zu nahe getreten. Zu meinem
nicht geringen Erstaunen reibt sich der Übeltäter nur ein wenig die
gerötete Backe, zieht einen verknitterten Zettel aus der Hosentasche,
liest wie wenn er etwas auswendig lernen würde und marschiert entschlossen
auf die nächste junge Dame los. Er murmelt etwas, was ich nicht verstehen
kann, und bekommt sofort wieder eine Abfuhr - diesmal wenigstens ohne
Ohrfeige. Nach diesem Schema geht es munter so weiter, bis der Typ, der
aufgrund seiner Kleidung unschwer als TU-Student zu erkennen ist, alle Damen in
der 'Anarchie' abgeklappert hat. Mit einem resignierten Seufzer läßt
er sich auf einen Barhocker fallen und reibt sich sein rechtes Schienbein, das
einen gezielten Tritt mit einem Stiletto abbekommen hat. Ich bedeute Janus, ihm
einen Martini einzuschenken und frage ihn ohne lange Einleitung, was er
eigentlich mit dieser Aktion hier bezwecke. Der Student der Mathematik -
denn um einen solchen handelt es sich - erläutert mir, daß er
versuche, eine Frau kennen zu lernen. Er bringt das in einem so nüchternen
Tonfall wie jemand, der sagt, er suche gerade nach Regenwürmern für
eine Angeltour.
Natürlich befrage ich ihn nach seiner Methode - man kann nie
auslernen -, und er erwidert, er sei streng systematisch vorgegangen, um
das Problem zu lösen:
- "Zuerst habe ich die Hauptwerke der Weltliteratur, in denen es um
Liebesbeziehungen geht, und natürlich auch die wichtigsten Filme nach den
besten Einleitungssätzen abgesucht, mit denen man eine Frau ansprechen
kann ... Leider läßt sich aus den empirischen Daten keine
Wertung ableiten, so daß ich im Moment einfach nach dem Zufallsprinzip
Sätze aus meiner Datenbank auswähle und im Feld
austeste."
"Aha"
- sage ich,
- "das Feld - das wäre also hier in der
'Anarchie'?"
- Der Student nickt und nimmt einen Schluck
Martini.
- "Es scheint, die heutige Auswahl war nicht sehr
erfolgreich",
- sage ich vorsichtig.
Der Student schüttelt den Kopf.
- "Was ... äh ... was war denn heute dran?" frage ich
neugierig.
- Der einsame Mathematikstudent zieht seinen Zettel hervor und starrt finster
darauf.
- "Zum Beispiel: 'Hi! Ich bin das Ergebniß eines Genexperiments. Ich
vereine in mir die körperlichen Merkmale von Ghandi und den Intellekt von
Schwarzenegger!'"
"Autsch!"
- sage ich.
Der einsame Mathematikstudent starrt mich verwundert
an.
- "Wieso? Das soll Ironie sein; angeblich sprechen intelligente Frauen
darauf an ..."
"Hmm",
- sage ich,
- "was noch?"
"'Hello Baby! Was ist dein Sternzeichen? Ich bin ein
Stier!'"
"Ich glaube, der ist nicht ganz neu",
- bemerke ich vorsichtig.
- "Ach ja? Komisch, der Satz war in der Häufigkeitsanalyse ganz an der
Spitze ..."
"Oder: 'Hallo! Ich habe zu Hause eine riesige Fotosammlung subatomarer
Partikelzerfälle. Hättest du vielleicht Lust, einen Blick darauf zu
werfen?'"
- Janus, der wie alle wirklich guten Barkeeper die ganze Zeit so getan hat,
als würde er nicht zuhören, läßt hinter der Theke ein Glas
fallen.
- "Das haben Sie irgendwo in der Weltliteratur
gefunden?"
- frage ich ungläubig.
- "Äh ... nein, nicht ganz so. Aber ich dachte, ich sollte es ein
wenig anpassen, damit es der Realität näher
kommt ..."
"Geben Sie mal Ihren Zettel her",
- sage ich energisch, und er tut es. Ich drehe den Zettel um und schreibe mit
meinem roten Korrekturstift einen Satz auf die
Rückseite.
- "Da!"
- sage ich und reiche ihm den Zettel.
- "Jetzt versuchen Sie es mal damit!"
- Die Lippen des einsamen Mathematikstudenten bewegen sich lautlos, als er
den Satz memoriert. Dann schaut er mich ungläubig
an.
- "Äh ... ich kann mich nicht erinnern, daß der in meiner
Datenbank vorkam ..."
"Na los!"
- sage ich und schubse ihn von seinem Hocker.
- Janus und ich beobachten unauffällig, wie er zielstrebig auf eine
Dreiergruppe zusteuert, die sich gerade erst an einem Tisch niedergelassen
haben. Der einsame Mathematikstudent murmelt etwas und alle drei Mädchen
brechen spontan in fröhliches pubertäres Gequicke aus. Kurz darauf
sitzt er an ihrem Tisch, und keine 15 Minuten später bemerken wir,
wie er mit der Hübschesten Hand in Hand die 'Anarchie' verläßt,
wobei nicht zu übersehen ist, daß die junge Dame ihn recht energisch
hinter sich herzieht.
Janus legt beide Hände vor mir auf die polierte Theke und guckt mich
an.
- "Raus mit der Sprache! Was hat er denen gesagt?"
- Ich grinse und lasse den zerknitterten Zettel auf die Theke gleiten. Auf
der Rückseite steht:
- "Hi! Ich bin ein einsamer Mathematikstudent. Aber ich kann deinen Laptop im
Handumdrehen so konfigurieren, daß du Zugang zum Internet hast!"
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