- Alle sieben Monate schaue ich mal im Sekretariat nach, ob sich vielleicht
ein Scheck in meine aufgehäufte Post verirrt hat. Frau Bezelmann pflegt
die Post immer auf ihren Monsterkaktus zu spießen, damit sich die
Mitarbeiter alle Extremitäten perforieren, wenn sie versuchen, an ihre
Post zu kommen. Als Gegenmaßnahme hole ich jetzt meine Post nur noch alle
sieben Monate ab, und Frau Bezelmann hat hoffentlich bald das Problem,
daß ihr blöder Kaktus an Lichtmangel eingeht!
Wenn es so einfach wäre! Nachdem meine Post allmählich die
Ausmaße des Mt. Everest angenommen hatte, hat Frau Bezelmann sich
von den Festkörperphysikern eine ausgediente 1200-Bar-Hochdruckpresse
besorgt, mit der sie jetzt meine Post zu handlichen Würfeln mit
11 Zentimeter Kantenlänge zusammen stampft, die sie auf dem
Fensterbrett aufbewahrt (draußen!). Zum Glück überleben die
Schecks - das einzig Wichtige in meiner Post - diese Prozedur
weitgehend unbeschadet; es ist nur jedesmal ein Glücksspiel
herauszufinden, in welchem Würfel überhaupt ein Scheck sein
könnte.
Ich poke also gerade mit einem Brieföffner in einem vielversprechend
aussehenden Preßpapierwürfel herum, als plötzlich ein
Null-Kelvin-Hauch meinen Kragen hinab sickert, und ein leises höhnische
Krächzen ertönt. Frau Bezelmann atmet mir in den Kragen, und der Rabe
Nero sitzt wie üblich auf ihrer Schulter. Beide strahlen mich an -
ein Anblick, der jeden mit einem nicht so gefestigten Nervenkostüm wie
mich veranlaßt hätte, sich schreiend aus dem Fenster zu
stürzen.
- "Ich sssoll Ihnen vom Chef wasss ausssrichten",
- zischelt Frau Bezelmann mit blitzenden Augen. Wenn sie so begeistert und
noch dazu freiwillig darauf aus ist, einen Auftrag des Chefs auszuführen,
kann das nur bedeuten, daß der Auftrag die Unannehmlicheitsstufe 12 (auf
der nach oben hin offenen Bezelmann-Skala!)
überschreitet.
Frau Bezelmann informiert mich ausführlich, daß der Chef heute
plötzlich zu einem extrem wichtigen Experten-Hearing nach Berlin geflogen
sei, und ich deshalb seine heute fällige mündliche Prüfung
übernehmen müsse.
- "Und Ihr Beischschschläfer issst der Kollege
Rinzzzling",
- beendet Frau Bezelmann genüßlich ihre
Hiobsbotschaft.
'Beischläfer' ist der am LEERstuhl gebräuchliche Euphemismus für
'Beisitzer', also der zweite Prüfer in einer mündlichen Prüfung,
der die ganze Zeit dumm 'rumsitzt und versucht, keinen Gähnkrampf zu
bekommen.
Ich versuche äußerlich cool zu bleiben, während mein Kleinhirn
fieberhaft nach Ausreden sucht, die vor Frau Bezelmann Stand halten
könnten. Leider ohne Erfolg. Und der Bastard Ausredenkalender liegt
nutzlos drüben in meinem Büro. Scheiße!
Ich trotte also zum Büro des Kollegen Rinzling und bumpere gegen die
antiseptisch versiegelte Tür, bis er endlich einen winzigen Spalt weit
aufmacht.
Ich informiere ihn mit dürren Worten, daß wir in zwanzig Minuten
eine Prüfung abzuhalten haben. Der Kollege Rinzling starrt mich entsetzt
an und läßt vor Schreck sogar seine Atemschutzmaske
fallen.
- "Aber ... aber ... das geht nicht ...
weil ..."
- Ich sehe, daß sein Kleinhirn verzweifelt nach möglichen Ausreden
sucht. Vielleicht sollte ich dem Kollegen Rinzling mal eine Kopie des Bastard
Ausredenkalenders zu kommen lassen? Nee, lieber nicht! Je weniger das Ding
Verbreitung findet, desto besser für mich!
Eine halbe Stunde später betrete ich die 'Folterkammer' (= Büro
des Chefs, wo normalerweise die mündlichen Prüfungen abgehalten
werden) und begrüße die Prüfungskandidatin, eine kleine
hübsche Brünette, deren Augen sich bei meinem Anblick entsetzt
weiten.
- "Aber ... ich dachte ... äh ... es war
doch ..."
- stottert sie entsetzt und zupft nervös ihren viel zu kurzen Rock
über die Schenkel.
Ich teile ihr lakonisch mit, daß ich heute den Chef vertreten müsse
und lasse mich in den Sessel des Chefs fallen; sie wird kalkweiß und
fällt beinahe vom Stuhl. Ich rate ihr, tief durchzuatmen und an etwas
wirklich Nettes zu denken; dann gehe ich und hole ihr ein Glas Wasser, damit
mein Anblick sie nicht am Denken hindert.
Als ich zurückkomme, hat man sich so einigermaßen wieder gefangen,
und der Kollege Rinzling ist immer noch nicht da. Während wir warten,
versuche ich die gespannte Atmosphäre durch Small-Talk
aufzulockern.
- "Kennen Sie mich?!"
- herrsche ich sie an. Die Kandidatin läßt beinahe das Glas
fallen, dann nickt sie gottesergeben.
- "Dann wissen Sie ja, wie ich zu prüfen pflege ... ah, da kommt ja
endlich unser Herr Beischläfer ... Entschuldigung ... der Herr
Beisitzer ..."
- Tatsächlich hat sich die Türe geöffnet und ETWAS hat den
Raum betreten. Ob es der Kollege Rinzling ist oder überhaupt ein
menschliches Wesen, ist für den ungeübten Beobachter allerdings nur
schwer zu erkennen. Er trägt einen grünen Vollkörper-OP-Anzug
mit Gummihandschuhen, blaue OP-Plastikgamaschen über den Schuhen und ein
mittelschweres Atemschutzgerät, das seinen Kopf komplett umhüllt.
Zusammen mit dem röchelnden Atemgeräusch der Sauerstoffversorgung
ergibt sich im Gesamteindruck ein Mittelding zwischen Dr. Brinkmann und Darth
Vader, was die Kandidatin sicher beruhigen wird. Rinzling reicht mir den
desinfizierten Fragenkatalog des Chef. Um die Form zu wahren, werfe ich einen
kurzen Blick hinein, bevor ich ihn in den Papierkorb fallen lasse. Ein echter
Assistent braucht in Prüfungen keine Spickzettel
mehr!
- "Also", sage ich ernst, "Sie wissen ja: die Notenskala geht von 0 bis einer
Million; eine Million bedeutet ein glattes 'sehr gut', weniger als 500000
heißt ... naja, daran wollen wir jetzt lieber gar nicht denken,
nicht wahr? Ist der Herr Beischl... Herr Beisitzer bereit? Gut! Dann beginnen
wir wie immer mit der 50000-Punkte-Frage. Und die ist natürlich
traditionell was ganz einfaches: Was ist Strom?"
- Die Kandidatin starrt mich an, als ob ich von ihr verlangt hätte, die
Upanischaden rückwärts und in sumerischer Keilschrift
wiederzugeben.
- "W... was Strom ist?"
"Genau! Das will ich von Ihnen wissen. Ist es
- eine große Menge sich in einer Richtung bewegendes Wasser
- negative Ladungen, die sich in einer Richtung bewegen
- positive Ladungen, die sich überhaupt nicht bewegen oder
- negative Einladungen, die sich alle in der anderen Richtung bewegen?"
- Die Kandidatin bewegt lautlos die Lippen, dann flüstert sie kaum
hörbar:
- "B?"
- Ich drücke auf einen Knopf und eine Fanfare schmettert mit 130 dB
aus der privaten HiFi-Anlage des Chefs. Man hört deutlich, wie sich der
rechte Hochtöner verabschiedet. Die Kandidatin hopst vor Schreck
15 Zentimeter hoch, und der Kollege Rinzling fällt rücklings vom
Stuhl.
- "Höhmmöhmömnmön mönmöhm
möhn!"
- sagt er wütend, als ich ihm helfe, den verhakten Schlauch des
Atemschutzgeräts aus dem umgestürzten Garderobenständer zu
befreien.
- "Genau!"
- sage ich fröhlich.
- "Das war richtig! Der Herr Beisitzer hält im Protokoll fest: die
Kandidatin hat 50000 Punkte! Und schon kommen wir zur 100000-Punkte-Frage:
Warum fließt der Strom? Ist es
- weil der Leiter des Anliegers gewisse Potentiale hat
- weil ein Potentat ein gewisses Anliegen auf der Leitung hat
- weil ein gewisses Potential an einer Leitung anliegt oder
- weil der Strom sofort gefeuert wird, wenn er nicht fließt?"
- Die Kandidatin zögert, Schweißtropfen rinnen in ihr
dürftiges Dekollete.
- "Lassen Sie sich ruhig Zeit",
- sage ich ungnädig und trommele
SOS-Morsezeichen auf den Prüfungstisch.
- "Äh ..."
"Jaa?"
"Ich weiß nicht ..."
- Ich lehne mich genüßlich zurück.
- "Sie wissen, Sie haben die Möglichkeit, genau einmal die Frage an den
Herrn Beischl... an den Herrn Beisitzer
weiterzugeben ...",
- der Kollege Rinzling röchelt abwehrend,
- "... oder eine Email an einen Helfer Ihrer Wahl zu schicken. Diese
muß aber innerhalb von 300 Sekunden beantwortet
werden ..."
- "C",
- haucht die Studentin fast unhörbar.
- "Wie?"
- frage ich enttäuscht.
- "C."
- "Tja, ist das richtig? Nach der Werbung wissen wir mehr ... Hahaha,
nur ein kleiner Scherz am Rande. Das war natürlich richtig! Der Herr
Beisitzer hält fürs Protokoll fest: die Kandidatin hat
100000 Punkte. Und schon kommen wir zur 250000-Punkte-Frage: Wann
fließt der Strom sicher nicht? Ist es
- wenn der Potentialdamm den Schutzleiter durchtrennt hat
- wenn der Potentialdamm höher ist als die Ableitung des magnetischen
Durchfluß dividiert durch das Integral des Tensorbetrags der
magnetischen Flußdichte
- wenn der Damm höher ist als die Differenz aus Integral über
Zuflußmenge und Abflußmenge dividiert durch Grundfläche
des Stausees oder
- wenn der Potentialdamm größer ist als 42?"
- Ich sehe an den Augen der Kandidatin, daß sie schon bei b) die letzte
Hoffnung aufgegeben hat, diese Prüfung aus eigener Kraft zu bestehen. Das
ist bei dieser Frage eigentlich immer so. Flehentlich richtet sie ihren Blick
auf den Kollegen Rinzling.
- "Kann ich diese Frage an Sie weitergeben?"
- lispelt sie verzweifelt.
Der Kollege Rinzling röchelt so heftig wie Darth Vader bevor er in
Teil III von seinem eigenen Sprößling erledigt wird. (Ich bin
ein großer Fan von Darth Vader. Ich muß mich immer gewaltsam
zurückhalten, daß ich dem Kollegen Rinzling in dieser Verkleidung
nicht ganz spontan mit meinem Flammenschwert zu Hilfe komme.) Rinzling
überlegt einen Augenblick angestrengt, dann sagt er
entschieden:
- "Möhm!"
- Das kann jetzt alles heißen, und ich könnte somit die
Prüfung zu einem für alle wesentlichen Parteien befriedigendem Ende
bringen. Aber ich möchte die Kandidatin noch ein wenig im eigenen Saft
kochen lassen. Wann hat man schon die Gelegenheit, innerhalb einer Stunde
fünf Kilo abzunehmen, ohne auch nur mit dem kleinen Zeh zu
wackeln?
- "C!"
- rufe ich also,
- "Das ist richtig! Die Kandidatin hat 250000 Punkte. Und nun zur alles
entscheidenen 500000-Frage. Die magische Schallgrenze sozusagen,
hähähä ... Alles oder nichts. Der große Preis, nicht
wahr?"
- Die Kandidatin fällt bei jedem Satz um zwei weitere Zentimeter in sich
zusammen. Wäre interessant, ob sich das unbegrenzt fortsetzen ließe;
vielleicht säße irgendwann nur noch ein Bündel
durchgeschwitzter Klamotten auf dem Prüfungsstuhl? Aber leider fallen mir
keine blöden Sprüche mehr ein.
- "Äh ... also die Frage lautet: Welche der folgenden Aussagen ist
möglicherweise nicht ganz falsch:
- der potentielle Leiter dämmt sich gegen den Stromfluß
- der Potentialdamm leitet fließende Potentaten
- der fließende Strom potenziert sich im gedämmten Leiter
- der Potenzfluß strömt gegenleitend über den Damm?"
- Die Kandidatin macht natürlich von ihrem Email-Recht Gebrauch; darauf
hätte ich meine ganze DVD-Sammlung verwettet. Während der Kollege
Rinzling auf die Stoppuhr aufpaßt, und die Kandidatin bibbernd darauf
wartet, daß mein kleiner Dämon im Mailserver die falsche Antwort
zurückschickt, gehe ich hinüber ins
Sekretariat.
- "Ist das da nicht ein Rabe, da auf dem Versuchsaufbau der
Nuklearphysiker?"
- rufe ich, und während Frau Bezelmann kurzsichtig aus dem Fenster
späht, klaue ich mir aus ihrer Kaffeemaschine die letzte Tasse
Kaffee.
Als ich zurück in die 'Folterkammer' komme, ist die Antwortmail
bereits da. Bevor die Kandidatin noch den Mund aufmachen kann, sage
ich bedauernd(sic!):
- "Leider falsch!"
"Aber ... aber ... ich habe doch noch gar nicht ... ich habe
doch gar nichts gesagt ..."
"Na, was wollten Sie denn sagen?"
- frage ich ungnädig.
- "D."
"'Der Potenzfluß strömt gegenleitend über den
Damm?'",
- sage ich sarkastisch,
- "Mal ganz ehrlich: Haben Sie schon jemals in Ihrem kurzen Leben einen
solchen Blödsinn gehört? Vom Fernsehen mal
abgesehen ..."
- Beim Hinsetzen bleibe ich aus Versehen an Rinzlings wuchernden
Sauerstoffschläuchen hängen, und irgendetwas macht 'Plop!', und es
fängt vernehmlich an zu zischen. Der Kollege Rinzling
schreit:
- "Möhm! Möhn!!!"
- und schießt wie ein antiseptisch eingekleideter
Kugelblitz aus dem Prüfungszimmer.
- "Ich denke",
- sage ich grimmig,
- "er hat Ihnen gerade viel Glück für die Wiederholungsprüfung
gewünscht."
- Um die geknickte Kandidatin etwas aufzumuntern, schiebe ich sie zu Frau
Bezelmann ins Sekretariat. Die kann ihr dann erzählen, daß die
Wiederholungsprüfung garantiert vom Chef persönlich durchgeführt
wird. Das ist immer so, angeblich nur damit überhaupt noch irgendwelche
Studenten an unserem LEERstuhl die Hauptprüfung bestehen ...
|