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03.03.2003 BASTARD   MAILING   LIST   © Florian Schiel
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Geronto-Darwinism
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Million Game
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Es sind Semesterferien und ich langweile mich. Keine Studenten zum Quälen da, kaum noch interessante Sexthemen in den User-Mailboxen, und die R.k.f.H. ('Reisekostenstelle from Heaven') hat geschlossen ihren Jahresurlaub angetreten - vermutlich nur damit ich niemanden mehr habe, den ich am Telefon nerven kann. 
Ich blättere lustlos in alten Ausgaben von 'Hacker's Havoc' und versuche aufzupassen, daß ich mir beim häufigen Gähnen nicht die Kiefer ausrenke.
Plötzlich wird ohne Ankündigung die Türe zu meinem Allerheiligsten aufgerissen. Obwohl ich draußen das Schild 'Nicht stören! Wichtiger Versuch läuft!' hingehängt habe! 
Natürlich ist es der Chef! Niemand sonst würde es wagen ... 
"Ah ... äh ... Leisch ... ähm ... gut daß ... daß ich Sie hier ... ähm ... und ich hatte schon ... hrrrmm ... schon befürchtet, daß ... hm ..." 
Was der Chef befürchtet hatte, behält er klugerweise für sich. Anscheinend hat er nach fünfzehn Jahren Zusammenarbeit mit mir doch noch gelernt, daß alles Schreckliche, was an diesem LEERstuhl passieren kann, auch passiert - vorausgesetzt man setzt mich vorher freundlicherweise in Kenntnis! 
Der Chef starrt konzentriert an die Zimmerdecke und sammelt seine Gedanken neu: 
"... hm ... ich wollte Ihnen sagen ... äh ... hatte ganz vergessen, daß ... ähm ... daß heute der Kollege Dr. Katzelbacher von der ... äh ... von der Firma ... äh ... von der Firma ..." 
"Dings?" 
schlage ich hilfreich vor. 
"... von der Firma Dings ... nein ... von der Firma Siemens vorbeikommen wird ... ähm ... ja ... unser Partner im ... äh ... SCHWAFEL-Projekt. Er wird ... er bringt das neue Versuchsfahrzeug, das die ... äh ... Kollegen von Siemens für den Prototypen entwickelt ... äh ... haben ..." 
Katzelbacher sei bereits auf dem Weg hierher, fährt der Chef fort, und solle einen Vertreter des LEERstuhls mit zum SCHWAFEL-Navigations-Meeting nehmen. Bei der Gelegenheit werde dann auch gleich der neue Navigations-Prototyp der Presse vorgestellt. 
Ich mache den Mund auf, um zu sagen, daß ich mit dem SCHWAFEL-Projekt nichts mehr am Hut habe, seit es vor zwei Jahren auf der CeBit zum Fiasko mit der Vorstellung des damaligen SCHWAFEL-Prototypen kam. Es handelte sich damals um eine sprechende elektrische Zahnbürste, die das Sprachsignal direkt an den Kieferknochen ankoppelt. Infolge eines Kommafehlers im C-Kode wurde das Sprachsignal mit der zehnfachen Frequenz im Ultraschallbereich abgestrahlt. Und der hohe Ministerialbeamte, der den Prototypen vorführen sollte, spuckte plötzlich die Einzelteile seines Gebisses in die laufenden Kameras. Damals entschied die Projektleitung, daß es eventuell besser wäre, wenn der Kollege O. die Leitung des Projektes übernehmen würde - was mir nur recht war: Drittmittelprojekte braucht ein Assistent so nötig wie Filzläuse in den Augenbrauen! 
Gerade noch rechtzeitig fällt mir ein, daß der Kollege O. ja auch im Urlaub ist, und daß mir außerdem todlangweilig ist. Also lasse ich mich nach einigem Hin und Her dazu überreden, heute den Kollegen O. auf dem Meeting zu vertreten. Der Chef geht erleichert zum Golfspielen, und ich lasse mir von Frau Bezelmann einen Vordruck zur Abrechnung von Reisespesen aushändigen. 
Keine zwanzig Minuten später sitze ich schon mit Dr. Katzelbacher im Versuchsfahrzeug, einem 7er BMW, der mit allen möglichen und unmöglichen Techno-Krimskrams und LCD-Displays vollgestopft ist. Im Kofferraum befindet sich die Rechenpower einer mittleren Cray, und der Fahrersitz ist von Sensoren so dicht umzingelt, daß man sich wundern muß, daß der Fahrer überhaupt noch die Straße sehen kann. 
Katzelbacher scheint mich nicht zu kennen, denn er ist ausgesprochen freundlich zu mir, und weist mich vorsichtshalber daraufhin, daß der Prototyp bereits gebootet ist, und daß ich deshalb bitte auf gar keinen Fall irgendwelche Tastaturen berühren solle. 
"Hmm", 
sage ich skeptisch und beäuge ein LCD genauer, auf dem ich eine Linux-Root-Konsole sehen kann. 
"Und was ist das für ein komisches Geräusch?" 
"Komisches Geräusch?" 
"Naja, dieses hohe Rauschen. Scheint irgendwie von hinten zu kommen. Sind Sie sicher, daß der Kofferraum auch zu ist?" 
Katzelbacher wird blaß. Immerhin ist im Kofferaum die ganze Elektronik untergebracht, und im Moment kübelt es wie aus Gießkannen. Er steuert das Versuchsfahrzeug in die nächste Ausweiche und springt aus dem Wagen. Ich ziehe rasch den Hebel, der den Kofferaum entriegelt, damit er dahinten was zu tun hat, dann tippe ich auf der Konsole einen Suchbefehl ein, der das File-System des Prototypen nach Dateien namens 'left' oder 'links' absucht. Tatsächlich finde ich auf Anhieb zwei Sounddateien 'Links.wav' und 'Rechts.wav', die vermutlich die Sprachsamples für die synthetische Stimme des Navigationssystems enthalten. Ich vertausche die beiden Dateinamen und lösche den Bildschirm, gerade als Katzelbacher sich wieder hinter das Lenkrad quetscht. 
"Verstehe nicht, wieso der Kofferraum offen war", 
meint er kopfschüttelnd, 
"aber zum Glück ist kein Wasser eingedrungen." 
Wir fahren weiter und ich sage nach ein paar Kilometern mit möglichst zweifelnder Stimme: 
"Und? Funktioniert der Prototyp wenigstens ein bißchen?" 
Katzelbacher starrt mich empört an. 
"Natürlich funktioniert der! Der funktioniert einwandfrei!" 
Ich warte ... fünf vier drei zwei ... 
"Soll ich ihn mal anwerfen?" 
fragt Katzelbacher herausfordernd. 
"Ok", 
sage ich mit einem müden, sarkastischen Lächeln, so wie man einem Kleinkind zustimmt, wenn es ankündigt, den Mount Everest besteigen zu wollen. 
Katzelbacher drückt auf einen Knopf am Lenkrad und sagt: 
"Navigationssystem?" 
Nach zehn Sekunden signalisiert der Prototyp mit einem Piepston, daß er bereit ist. Katzelbacher sagt laut und deutlich: 
"Bitte leite mich nach Reutlingen in die Daimlerallee 26." 
Nach einer weiteren Denkpause von 10 Sekunden meldet sich eine synthetische Schlafzimmerstimme: 
"Sie wollen in die Tzaimszliraudllohj zwei und zwanzig in Rtloinngon?" 
"Die Sprachausgabe von Straßen- und Ortsnamen ist noch nicht ganz perfekt", 
sagt Katzelbacher etwas verlegen. Dann drückt er wieder die Taste und sagt: 
"Ja!" 
"Navigation beginnt", 
sagt die Schlafzimmerstimme gelangweilt, 
"nach 400 Metern links abbiegen." 
Katzelbacher strahlt. 
"Na? Was sagen Sie jetzt?" 
"Noch sind wir nicht in Reutlingen", 
kommentiere ich trocken. 
"Oh, die Zielführung funktioniert immer", 
sagt Katzelbacher fröhlich, 
"das ist ja auch gar keine Neuentwicklung ..." 
Er biegt links ab. Keine fünf Sekunden später meldet sich gelangweilt das Navigationssystem: 
"Sie haben die gewählte Route verlassen." 
Katzelbacher schaut konsterniert. 
"Häh? Wieso? Ich bin doch links abgebogen ..." 
"Neue Route wird berechnet", 
verkündet die Schlafzimmerstimme seelenruhig. 
"Aber ..." 
"Nach 200 Metern scharf rechts abbiegen." 
"Ok", 
murmelt Katzelbacher zwischen den Zähnen und wirft mir einen unsicheren Blick zu. 
"Wenn das bloß heute Nachmittag bei der Vorstellung für die Presse nicht passiert ..." 
Er biegt schwungvoll rechts ab. 
"Sie haben die gewählte Route verlassen", 
verkündet das Navigationssystem. Wahrscheinlich ist es reine Einbildung, aber mir kommt es so vor, als wäre ein leichter Ton von Schadenfreude in der Schlafzimmerstimme zu hören. 
"Aber wieso denn!" 
ruft Katzelbacher erregt, haut wütend auf das Lenkrad und erwischt dabei die Spracheingabetaste. 
"Ich habe Sie nicht verstanden", 
lispelt die Schlafzimmerstimme pikiert, 
"bitte sprechen Sie mit normaler Stimme." 
Katzelbacher fummelt mit einer Hand an einer Konsole herum, um die unerwünschte Spracheingabe abzuwürgen. Dabei gerät er mit dem Wagen gefährlich weit hinüber auf die linke Straßenseite und rammt beinahe einen Polizeiwagen, der uns just in diesem Moment entgegen kommt. 
Manchmal muß man einfach Glück haben, denke ich - und meine natürlich nicht die gerade noch vermiedene Karambolage. 
Im Rückspiegel sehe ich, wie der Polizeiwagen eine gekonnte Handbremsen-Blockade-180-Grad-Wende hinlegt und mit Blaulicht und Sirene hinter uns herflitzt. 
"Oh, Gott. Auch das noch", 
murmelt Katzelbacher und hält den BMW vor dem U-Bahnhof Münchner-Freiheit. 
Ein dicker bayerischer Polizist mit dunkelrotem Gesicht kommt langsam nach vorne und beugt sich zum Fahrerfenster hinunter: 
"Se san ja woi damisch!" 
bellt er wütend. 
"Fahrzeugpapiere vorzeign!" 
Bevor Katzelbacher auch nur einen Piep sagen kann, meldet sich das Navigationssystem: 
"Diese Eingabe ist leider nicht erlaubt!" 
erklärt es mit kategorischer Stimme. 
"Wooos?!" 
brüllt der Polizist und wird womöglich noch dunkelröter. Der zweite Polizist zieht hastig seine Dienstwaffe und bleibt in sicherem Abstand in Habachtstellung stehen. 
Katzelbacher beginnt fieberhaft zu erklären, worum es sich hier handele, immer wieder unterbrochen von hilfreichen Bemerkungen des Navigationssystems, man möge bitte mit normaler Stimme sprechen, diese Eingabe sei leider nicht erlaubt, es habe leider nicht verstanden und ab und zu auch der Frage, ob man vielleicht zurück ins Hauptmenu möchte. Ich schaue mir das Chaos ein paar Minuten mit an, dann steige ich aus dem Fahrzeug und erkläre Katzelbacher, der zu diesem Zeitpunkt bereits mit Handschellen gefesselt im Polizeiwagen sitzt, daß ich doch lieber mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Meeting fahren werde. Dann steige ich in die U-Bahn und fahre nach Hause.
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