Manche Leute können sich gar nicht vorstellen, wie viel Einsatz so ein
Uni-Job einem abverlangt. Wenn man wirklich nur die Dinge zu erledigen
hätte, die routinemäßig von einem erwartet werden: Studenten
aus den Seminaren ekeln, möglichst fiese Prüfungen entwerfen, die
Studenten-Email scannen, gegen die Mitarbeiter und/oder Verwaltung intrigieren
und so weiter. Das alles ginge einem ja recht locker von der linken Hand;
schließlich bekommt man mit der Zeit Routine. Aber dann sind es diese
scheinbar trivialen, unerwarteten Nebensächlichkeiten, die einen ewig lang
beschäftigen können.
So wie heute.
- Wir sitzen gerade bei unserem sechsten Kaffee gemütlich in der
Bibliothek - draußen hat Frau Bezelmann ein Schild aufgehängt
Bibliothek wegen akuten Mäusebefalls geschlossen, um etwaige
arbeitswütige Studentinnen abzuschrecken - als plötzlich
Marianne mit hochrotem Kopf und wütend funkelnden Augen die Türe
aufreißt und schreit:
- "DAS ist doch wirklich das Allerhinterletzte!"
- Ich erkläre hastig, daß ich absolut unschuldig sei, und bringe
mich hinter dem Katalog in Sicherheit, obwohl Marianne heute ihren
Posaunenkasten gar nicht dabei hat, mit dem sie normalerweise auf mich
eindrischt, wenn wenn ich 'aus Versehen' einen ihrer geheiligten
SimNet-Prozesse gekillt habe. Aber Marianne beachtet mein hastiges Manöver
überhaupt nicht; wütend faucht sie:
- "Irgend so ein Arschloch hat mein Fahrrad demoliert; ist einfach
darüber gebrettert und hat es liegen gelassen. Wenn ich den Kerl
erwische ..."
"Woher weißt du, daß es ein Kerl war und nicht vielmehr eine
Kerlin?" frage ich und tupfe mir den Kaffee von der Hose, den ich bei meinem
hastigen Rückzug verschüttet habe. Zum Glück ging das meiste
nicht auf meine Hose sondern in den geöffneten Bibliothekskatalog. Und ein
noch größeres Glück habe ich, daß der Kollege O.
nicht da ist; der hätte mich sonst sofort und aus dem Stand heraus
gelyncht.
- Marianne zieht ihre hübsch geschwungenen Augenbrauen zusammen und
überlegt eine halbe Sekunde, ob ich mit dem Begriff 'Kerlin' etwa auf ihre
sexuelle Ausrichtung anspiele (Marianne kann da sehr empfindlich sein; also
Vorsicht!), aber dann konzentriert sie ihre aggressiven Energien wieder auf den
unbekannten Bösewicht:
- "Ist doch völlig Schnuppe! Das Schwein hat mein Fahrrad ruiniert und
Fahrerflucht begangen! Und was das Beste ist: Es muß einer hier im Hause
sein; mein Fahrrad stand nämlich HINTER der Schranke zur
Tiefgarage!"
"War bestimmt einer von den Alt-Testamentlern", mutmaßt Frau Bezelmann
kühl. "Die evangelischen Theologen hätten zu viele moralische
Skrupel, da einfach wegzufahren!"
"Wenn ich den erwische! Den hänge ich an den Eiern auf!" knurrt Marianne
wütend.
"Oder an den Eierstöcken", wage ich zu bemerken.
- Später, in meinem Büro, schiebe ich alle anstehenden Arbeiten auf
meinen Stack, der sowieso demnächst die Zimmerdecke durchbrechen wird, und
konzentriere mich auf Mariannes Fahrrad-Problem. Eine halbe Stunde später
hängt neben dem Magnetkarten-Leser der Tiefgarage ein Zettel folgenden
Inhalts:
- "Mein Fahrrad wurde von einem Benutzer der Tiefgarage überrollt. Die
Nummer des Fahrzeugs wurde vom Besitzer des Cafes gegenüber notiert.
Melden Sie sich noch heute, sonst Anzeige wegen Fahrerflucht und ich hänge
Sie an den Eiern/Eierstöcken auf!"
- Darunter meine Telefonnummer.
Schon um halb neun Uhr am darauffolgenden Morgen meldet sich der
Übeltäter. Es ist tatsächlich ein Eierträger; Marianne hat
ausnahmsweise Recht gehabt. Der Schuldige zeigt sich sehr kooperativ (ob wegen
der angedrohten Anzeige oder wegen des angedrohten Aufhängens, weiß
ich nicht!). Um die Sache zu vereinfachen, gebe ich ihm meine Kontonummer und
setze den Schaden auf pauschal 1000 Mark an.
Gleich darauf - ich schreibe gerade Marianne eine Email mit der freudigen
Nachricht, daß der Schuldige gefunden und bereit ist, 200 Mäuse
Entschädigung zu zahlen - läutet wieder das Telefon, und ich
gehe ran. Eine weibliche Stimme (Eierstöcke!) gesteht zögernd,
daß sie "letzte Woche möglicherweise ein Fahrrad gestreift hat".
Eine Sekunde lang bleibt mir die Spucke weg, aber dann klickt es: Na, klar! Ich
hatte ja nicht geschrieben, WANN Mariannes Fahrrad demoliert wurde. Ich
erkläre, ohne mit der Wimper zu zucken, daß der Schaden einen Riesen
gekostet habe, und gebe meine Konto-Nummer durch.
Bis zum Mittagessen steht das Telefon kaum noch still. Insgesamt fünf Paar
Eier und vier Paar Eierstöcke. Alle haben innerhalb der letzten zwei
Wochen Fahrräder ge-crashed, gestreift, platt gewalzt, oder glauben es
zumindest; einer sogar in einem ganz anderen Stadtteil! Da es sich fast
ausnahmslos um Theologen handelt, sind alle zum finanziellen Sühneopfer
bereit. Nur einer - wahrscheinlich ein Jesuit - verlangt die notierte
Autonummer zu wissen, und da ich sie logischerweise nicht nennen kann, legt
dieser amoralische Verräter an seinem Berufsstand einfach wieder auf,
bevor ich ihm mit dem jüngsten Gericht drohen kann.
Wo soll das nur hinführen, frage ich, wenn die Leute gar keine
Moral mehr zeigen?
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