Seit der Unheimlichen Begegnung mit dem renitenten Rentner letzte
Woche ist mein Bastard Cruiser from Hell immer noch in der Werkstatt.
Unglaublich, was so ein moderner Titanium-Krückstock alles anrichten kann!
Die Motorhaube total verbeult, der linke Scheinwerfer und beide
Rücklichter zertrümmert! Naja, meine Hupe ist vielleicht wirklich
etwas zu kräftig eingestellt ... Aber irgendwie sind die Rentner
heute auch nicht mehr die Tattergreise von anno dazumal! So was von fit!
Muß an der Gesundheitsreform liegen. Oder der Pflegeversicherung? Auf
jeden Fall ist bestimmt auf die eine oder andere Weise die Regierung daran
schuld, daß ich jetzt hier in der stinkenden U-Bahn zur Arbeit dackeln
muß! (Merke: die Regierung ist IMMER schuld! Das ist schon seit der
Jungsteinzeit so. Eigentlich überhaupt seit es Regierungen gibt, sind sie
vor allen Dingen bequeme Sündenböcke für alle Arten von
Malheuren, die einem so täglich widerfahren.)
- Außerdem ist die Schuld der Regierung immer ein guter Anfang für
eine Unterhaltung in der U-Bahn. Als die U-Bahn heute morgen das zweite Mal im
Tunnel stecken bleibt, bemerke ich beiläufig zu niemandem
Bestimmten:
- "Liegt garantiert an der neuen Regierung, daß dauernd die U-Bahn
stecken bleibt!"
- Das Männlein auf dem Sitz mir gegenüber hebt den Blick von der AZ
und mustert mich kritisch. Nach einer zu langen Pause sagt er plötzlich
herausfordernd:
- "Wetten, daß ich nach Ihnen aussteigen
werde?"
- Ich betrachte das Männlein interessiert. Es ist ziemlich verhutzelt,
fast kahl bis auf einen dichten Kranz borstiger Haare um die riesigen Ohren,
hat ein dreieckiges Gesicht mit hoher faltiger Stirne und scharfe Augen, die
aufmerksam über eine total verschmierte Lesebrille
blicken.
- "Ich wette mit Ihnen, daß ich nach Ihnen aussteigen
werde",
- wiederholt mein Gegenüber mit seiner komisch quietschenden Stimme und
stopft mit resoluten Bewegungen die AZ in die Manteltasche, ohne mich aus den
Augen zu lassen.
- "Ok", sage ich bereitwillig, "um was wetten wir denn?"
"Das ist völlig irrelevant", schüttelt das Männlein den Kopf.
"Wichtig ist, daß mir Ihre Gesichtsform nicht gefällt: sie ist
für Ihren Beruf zu rund!"
"Interessant", gebe ich zu, "woher wissen Sie denn, was für einen Beruf
ich habe?"
- Er räumt ein, daß er meinen Beruf gar nicht
kenne.
- "Aber das ist irrelevant", erklärt er kühl, "wichtig ist,
daß Sie für Ihren Beruf einen zu runden Kopf haben und daß ich
nach Ihnen aussteigen werde!"
"Ihre Gesichtsform ist auch nicht rund", bemerke ich nach zehn Sekunden,
um das Gespräch am Laufen zu halten.
"Natürlich nicht!" entrüstet er sich und funkelt mich über die
Ränder seiner Lesebrille an. Die Haare um seine spitzen Ohren
sträuben sich ein ganz klein bißchen.
- Die Station Universität wird angekündigt, und ich stehe auf und
drängele mich durch die Massen spät-pubertierender Studenten in
Richtung Ausgang. Sofort steht der Typ gegenüber auch auf und hängt
sich an mich dran.
- "Augenblick mal!" sage ich und bleibe stehen. "Sie wollten doch nach
mir aussteigen!"
"Ich werde ja auch nach Ihnen aussteigen", erklärt er giftig. "Ich gewinne
meine Wetten immer. Das ist mein oberstes Prinzip!"
"Aber das ist doch gegen die Regel", protestiere ich lautstark, "Sie
müssen bei der nächsten Station aussteigen, wenn Sie die Wette
gewinnen wollen!"
- Die umstehenden StudentInnen beginnen, vorsichtig von uns beiden
abzurücken.
- "Keineswegs", geifert der Giftzwerg mit dem dreieckigen Gesicht. "Ich habe
nur gewettet, daß ich NACH Ihnen die U-Bahn verlasse! Und das werde ich
auch!"
- Die U-Bahn hält und die Türen rauschen auf. Ich rühre mich
nicht vom Fleck.
- "Nun?" fragt er ungeduldig und stupft mich in den
Rücken.
"Ich denke gar nicht daran!" erkläre ich kategorisch. "Ich pflege meine
Wetten nämlich auch zu gewinnen ..."
"Aber das ist doch Ihre Station! Sie steigen jeden Tag hier
aus ..."
"Und außerdem glaube ich, daß Sie sich irren: nicht mein Gesicht
ist zu rund, sondern Ihr Gesicht ist zu dreieckig!"
"W ...!" dem Männlein bleibt die Luft weg vor Empörung. "Das ist
doch wohl ...!"
- Die Türen rauschen zu.
- "Jetzt haben Sie Ihre Station verpaßt!"
"Stimmt!" kontere ich gelassen. "Sie aber auch!"
"Woher ...?"
"Ich bin nicht blind", erkläre ich eisig. "Sie fahren seit einer Woche
jeden Morgen in meinem Wagen bis zur Uni und steigen da
aus."
- Ich suche mir einen freien Platz gegenüber einer aufgeschlagenen
Süddeutschen Zeitung und setze mich wieder. Der Gnom folgt mir auf den
Fersen. Ich bemerke, daß er hinkt.
- "Was tun Sie da?" zetert er.
"Ich bleibe jetzt solange hier sitzen, bis Sie verschwunden sind", erkläre
ich. "Wollen doch mal sehen, wer den längeren Atem
hat ..."
- Mein Gegner stampft vor Wut auf den Boden. Es klingt wie ein Schlag mit
einem mittelschweren Schmiedehammer. Die Süddeutsche mir gegenüber
senkt sich langsam, und zwei kleine blaue Schweinsäuglein erscheinen
über dem oberen Rand der Zeitung und irren unsicher zwischen uns hin und
her.
- "Ich werde Sie schon noch dazu kriegen, vor mir auszusteigen", giftet das
Männlein und zerrt wütend an der Haltestange.
"Nichts zu machen", sage ich betont ruhig, um ihn noch mehr auf die Palme
zu bringen.
- Die Süddeutsche gegenüber faltet sich ganz rasch zusammen, steht
auf und drängt sich vor zur nächsten Plattform. Der Gnom hüpft
sofort auf den freien Platz. Er trägt überlange Schlaghosen, so
daß die Schuhe völlig verdeckt sind. Seine Füße
müssen merkwürdig kurz sein ...
Die Türen rauschen auf.
Eine Gruppe Kontrolleure steigt zu. Wie üblich sind sie als
verkleidete Kontrolleure verkleidet und somit leicht auszumachen. Die
gewohnheitsmäßigen Schwarzfahrer verlassen hastig die Plattformen,
bevor die Türen wieder zurauschen.
- "Die Fahrscheine bitte vorzeigen!"
- Ich zeige meine Netzkarte vor. Die Kontrolleuse, Typ untersetzte
Hilfsbuchhalterin aus der Stadtkämmerei, die sich bei jeder Gelegenheit
freiwillig zur U-Bahn-Kontrolle abstellen läßt, weil sie da
Schwarzfahrer zur Sau machen kann, anstatt von Ihrem Bürovorsteher zur Sau
gemacht zu werden, die Kontrolleuse knurrt mich warnend
an:
- "Die gilt aber nur noch bis zur übernächsten
Station!"
- Ich teile ihr mit, daß mir das bekannt sei.
Mein Gegner gegenüber zeigt eine Streifenkarte vor. Die Hilfsbuchhalterin
zieht erfreut die Augenbrauen zusammen.
- "Sie ham nur eine Kurzstrecke gestempelt, san aber schon vier Stationen
gefahren. Die is nimmer gültig. Ich muß Eahna ein erhöhtes
Beförderungsentgeld ausstellen. Sechzig Mark macht des. Kommens, steigens
mit uns aus, dann kann ich den Schein ausstellen!"
"Ich kann aber nicht aussteigen!" zetert der Gnom.
"Wieso denn net?"
Der Gnom fuchtelt aufgeregt mit seinen Gichtfingern in meine Richtung: "Ich
kann erst nach dem da aussteigen!"
- Die Türen rauschen auf.
- Die Kontrolleuse schaut mich verblüfft an:
"Und wann steigen Sie aus?"
- Die Türen rauschen wieder zu.
- "Ich weiß es noch nicht", sage ich und verschränke
gemütlich meine Arme, "auf jeden Fall erst nach dem Herrn da
gegenüber!"
Die Hilfsbuchhalterin schaltet mit zusammengezogenen Augenbrauen noch mal 87
Gehirnzellen hinzu (das war die stille Reserve!). "Aber Ihre Netzkarte gilt nur
noch bis zur nächsten Station!" sagt sie dann.
Das Männlein hüpft aufgeregt auf seinem Sitz auf und ab. "Ja, ja!
Genau!" kreischt es. "Der Kerl darf nicht weiter als bis zur nächsten
Station, nicht wahr? Aber wenn ich das erhöhte Beförderungsentgeld
bezahle ..."
"Ich zahle auch das erhöhte Beförderungsentgeld!" unterbreche ich
eiskalt und wedele der Kontrolleuse mit einem Hunderter vor der Nase herum.
"Damit kann ich sogar bis zur Endstation fahren, nicht
wahr?"
"Äh ..."
"Neiiiiin!"
- Der Gnom wird allmählich rebellisch. Er schüttelt den Kopf vor
Wut. Infolge der heftigen Bewegungen verrutschen seine braunen Kontaktlinsen
kurzzeitig und lassen ein giftiges Gelb mit senkrechten Schlitzpupillen
durchschimmern. Die anderen Kontrolleure werden aufmerksam und versammeln sich
um uns herum. Die Hilfsbuchhalterin erklärt hastig, worum es
geht.
Ein gesetzter Herr schräg gegenüber mit zwei Rauhhaardackeln und ZEIT
mischt sich ein:
- "Natürlich kann der Herr bis zur Endstation fahren, wenn er das
erhöhte Beförderungsentgeld bezahlt hat. Das
ist ..."
- Einen Moment lang reden alle durcheinander. Die Türen rauschen auf und
wieder zu. Dann einigen wir uns alle, daß beide, das heißt der Gnom
und ich, sechzig Mark zu bezahlen haben und damit weiterfahren dürfen,
solange wir wollen. Die Kontrolleure und der Herr mit dem Dackeln steigen bei
der nächsten Station aus. Wir sitzen uns schweigsam gegenüber und
beobachten uns feindselig, ob vielleicht einer Anstalten macht
aufzustehen.
Es wird allmählich leerer in unserem Wagen. Drei Stationen vor der
Endstation sind wir ganz alleine. Ich beuge mich vertraulich nach
vorne:
- "Ich möchte Ihnen einen guten Rat geben."
- Er vergräbt sein spitzes Kinn noch tiefer im Kragen seines schmutzigen
Wollmantels und beäugt mich mißtrauisch durch seine braunen
Kontaktlinsen.
- "Was?"
"Sie waren ganz offensichtlich bis vor kurzen in der Abteilung Mediavistik
beschäftigt ..."
- Der Gnom hebt wachsam den Kopf.
- "... und haben scheint's für Ihr neues Einsatzgebiet den falschen
Leitfaden mitgenommen."
- Die vorletzte Station wird angekündigt. Ich beuge mich noch weiter
vor:
- "Mann!" raune ich ihm verschwörerisch zu. "Das ist das einundzwanzigste
Jahrhundert! Sie können hier doch nicht einfach mit dreieckigem Gesicht
und gelben Schlitzaugen aufkreuzen! Wenn ich das Ihren Vorgesetzten
melde ... mein lieber Schwan! Sie werden schneller wieder bei der
Mediavistik sein, als sie 'Piep!' sagen können! Und was Sie da unten
erst haben ..."
- Mit diesen Worten packe ich ihn am rechten Hosenbein. Die Türen
rauschen auf. Der Gnom reißt sich mit erstaunlicher Kraft los, trampelt
mir brutal auf den linken Fuß und stürmt in Panik aus der
U-Bahn.
Viel später, als ich mühsam in mein Büro humpele, fängt mich Marianne
auf dem Gang ab.
- "Wo hast du denn heute morgen gesteckt? Und was ist mit deinem Bein
passiert?"
"Nichts weiter", wehre ich ab, "nur ein Tritt mit einem
Pferdefuß!"
"Pferdefuß!" wiederholt Marianne kopfschüttelnd in dem Tonfall, der
sagen soll: jetzt hat's ihn endgültig erwischt, und verschwindet in
ihrem Büro.
- Wie gesagt: ich pflege meine Wetten auch zu gewinnen - selbst Kollegen
gegenüber!
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