Manchmal bereue ich es wirklich, daß unsereins damals beim Entwurf der
zukünftigen Klimazonen (ich glaube es war am zweiten Tag) nicht
energischer eingeschritten ist. MAN hatte damals entschieden, daß es zwar
durchaus vernünftig temperierte Gebiete auf der zukünftigen Erde
geben solle, aber trotzdem werde MAN dem Designobjekt Erde einen leichten touch
auf die Rotationsachse geben. MAN begründete dies damals mit komplizierten
Theorien über die Entstehung des Lebens aus bi-chloriert-kreuxaxial
rechtsrehenden Milchsäuren in der Ursuppe, die angeblich jährliche
Temperaturschwankungen so um die 30 Grad benötigen würden.
Außerdem erhoffte MAN sich auch psychologisch interessante Ergebnisse,
wenn es die zu entwickelten Menschen nicht gar zu warm und kuschelig haben
würden: Von einem Höhlenmenschen, der das ganze Jahr über bei
bequemen 28 Grad vor seiner Höhle im Schatten liegen könne, von
dem dürfe man nicht erwarten, daß er irgendwann mal auch so etwas
Kompliziertes wie eine Zentralheizung erfinden würde.
Der Hinweis der FVE ('Fraktion Verfrorener Engel'), der auch ich damals noch
angehörte, der zaghafte Hinweis, daß MAN ja statt dessen bei einer
vernünftigen, gleichmäßigen Temperierung von 30 Grad auf
die Entwicklung von noch komplizierteren Klimaanlagen hoffen dürfe, wurde
wie üblich in göttlicher Allmachtsgewohnheit vom Tisch gefegt. (Kein
Wunder, daß wir kurz danach endgültig die Geduld verloren und uns in
besser temperierte Gefilde verzogen ...)
Und deshalb sitze ich jetzt hier auf dem 48ten Breitengrad und fluche über
den Wintereinbruch, den unsere ach so wunderbar kompliziert entwickelte
Universitätszentralheizung natürlich nicht mitbekommen hat, so
daß in meinem Büro schon die Eisblumen am Fenster wachsen! Auf der
Innenseite! Mein Atem beschlägt sich schon auf den
20-Zoll-Flachbildschirmen, und ich kann nicht mal mehr richtig nach den Servern
treten, weil ich sonst riskiere, daß meine steifgefrorenen Zehen
abbrechen!
Nun ja, an der Neigung der Erdachse kann ich im Moment nix ändern (ein
Kollege aus der Abteilung IEP ('Infernalische Erd-Prognostik') hat mir
übrigens gesteckt, daß die Menschen das erst in vierhundert Jahren,
in der sogenannten Post-Microsoft-Epoche, angehen werden), aber wenigstens hier
am LEERstuhl kann ich selber was unternehmen. Mit dem Generalschlüssel,
den der Chef schon seit 1972 vermißt, gehe ich in den Heizungskeller und
manipuliere die Heizungssensoren, bis sie eine Außentemperatur von Minus
achzig Grad anzeigen. Dann gehe ich in den Rechnerraum, schalte die Klimaanlage
auf reverse turbo und mache die Türe zum Flur weit auf. Bei jedem
RAID-Server ziehe ich mal kurz eine Platte heraus. Alle anderen Platten fangen
sofort an, die verlorenen Daten zu rekonstruieren; im Rechnerraum summt es wie
in einem Bienenhaus, das Land unter gemeldet hat. Mehrere Lüfter
springen an und blasen wunderbar warme Luft in die frostige Atmosphäre des
LEERstuhls. Dann gehe ich in den Maintenance-Mode und schicke an alle
hundertfünfzig Workstations einen Job höchster Priorität, der
meine letzte Steuerrückzahlung auf 10248976 Stellen hinter dem Komma genau
ausrechnet. Nicht daß das irgendeinen Einfluß auf meine finanzielle
Situation haben würde, aber ich weiß, daß die CPUs jetzt
für mindestens eine Stunde auf Hochtouren laufen und ihr Scherflein zur
allgemeinen Klimaverbesserung beitragen werden.
Im Diplomandenraum ist noch niemand bei der Arbeit; ich nütze die Gunst
der frühen Stunde und baue - nachdem ich den Rauchmelder abgeklemmt
habe - aus den uralten Holzstühlen ein gemütliches Lagerfeuer.
Zum Anfeuern hole ich Frau Bezelmanns vertrockneten Postkaktus aus dem
Sekretariat. Nachdem sich seit Monaten kaum noch jemand traut, seine Post aus
dem Stacheldschungel heraus zu fischen, ist das Ding mit mindestens zwanzig
Kilo alter Post überfrachtet. Der Rauch zieht zwar nicht besonders gut ab,
aber die Heizwirkung ist enorm. Nachdem ich noch sechs Heizlüfter in
strategische Stellungen rings um mein Büro herum gebracht und
sämtliche Kaffeemaschinen und Wasserkocher auf volle Leistung geschaltet
habe, bekommen wir langsam wieder annehmbare
Arbeitsbedingungen.
- Keine halbe Stunde später - ich bin gerade mitten in einer
heißen Schlacht gegen die gelben Grütze-Wesen von Pluto 9 und
feuere so schnell Quantentorpedos, daß die LEERtaste raucht - kommt
Marianne in mein Büro. Genauer gesagt, hält sie sich mit letzter
Kraft am Türpfosten fest, zerrt mit der anderen Hand krampfhaft an ihrer
Seidenbluse und starrt mich mit blutunterlaufenen Augen
an.
- "Hi", sage ich und feuere schneller, "was ist mit deinem Makeup passiert?
Hast du heute morgen statt Rouge Tomatenketchup
erwischt?"
- Tatsächlich hat sie einen knallroten Kopf wie eine überreife
Strauchtomate und der Schweiß rinnt ihr in deutlich sichtbaren
Gebirgsbächen von den Schläfen, den Hals herunter und vereinigt sich
zwischen ihren ansehnlichen ... hm ... weiblichen Rundungen zu einem
unaufhaltsamen Strom.
- "Warum, um Gottes Willen, ist es hier so unglaublich
heiß?"
- japst Marianne mit letzter Kraft, während sie langsam am
Türrahmen zu Boden gleitet. Auf ihrer weißen Bluse bildet sich
riesige dunkle Flecken.
- "Heiß? Ich finde es gerade mal angenehm zum Arbeiten", sage ich
erstaunt. "Meinst du etwa ...?"
- Aber Marianne hört mich nicht mehr. Besinnungslos liegt sie halb in
meinem Büro, während sich um ihren Körper herum in rascher Folge
eine riesige Schweißpfütze bildet. Wahrscheinlich hat sie Fieber,
denke ich besorgt, in der U-Bahn auf dem Weg zum LEERstuhl einen
24-Stunden-Virus eingefangen. Kein Wunder bei dieser Kälte! Bei fiebrigen
Infekten hilft nur Warmhalten, alte Medizinmannweisheit. Ich packe Mariannes
schlaffen, heißen Körper in zwei Wolldecken und bette sie dichter an
die glühenden Heizlüfter in meinem Büro. Beim Schließen
der Türe bemerke ich weitere leblose Gestalten im Gang liegen. Unter
Rinzlings verrammelter Bürotüre sickert eine Schweißpfütze
hervor. Plötzlich wird mir klar, daß ich auf dem besten Wege bin,
Ende Januar Hitzefrei zu bekommen. Ich husche schnell hinüber in die
Seminarräume und kontrolliere, ob auch alle Heizkörper voll
aufgedreht sind. Im stillen lobe ich die Sparsamkeit der Haustechnik,
derzufolge nirgendwo moderne Thermostat-Regler eingebaut sind. Auf dem Weg
zurück in mein Büro treffe ich ein paar StudentInnen in mehr oder
weniger nudistischem Zustand, die mit glasigem Blick nach dem Ausgang suchen.
Das wird endlich mal ein ruhiger Tag zum Arbeiten, denke ich noch erfreut, da
rauscht Frau Bezelmann um die Ecke!
Mit blitzenden Brillengläser steuert sie unbeirrt auf mich los. Die Hitze
scheint ihr überhaupt nichts anhaben zu können; im Gegenteil vermeine
ich, in ihrer unmittelbaren Nähe sogar ein merkliches Absinken der
Lufttemperatur zu verspüren.
- "Ich komme gerade ins Sekretariat", beginnt sie drohend mit eisiger Stimme,
"und sehe, daß mein Kaktus mitsamt der ganzen Post verschwunden
ist!!!"
"Na, so etwas",
- sage ich möglichst verwundert und versuche, in mein Büro zu
verschwinden. Aber Frau Bezelmann stellt sich mir in den
Weg.
- "Und das, obwohl das Sekretariat abgesperrt war, und das Schloß
völlig unbeschädigt aussieht!"
"Es gibt viele Leute, die einen Schlüssel zum Sekretariat
haben", verteidige ich mich rasch.
- "Aber niemanden, der es in dieser Hitze darin länger als zehn Sekunden
aushalten würde", zischt Frau Bezelmann unheilverkündend,
"außer Ihnen!"
- Plötzlich sehe ich, daß Frau Bezelmann ein riesiges
Kältespray aus dem Labor in der Hand hält, das sie bisher hinter
ihrem steifen Rücken versteckt hatte. Jetzt zielt sie damit auf mein
Gesicht und senkt langsam ihren dürren Zeigefinger auf den
Sprühkopf.
Verdammt! Wo ist ein Flammenwerfer, wenn man ihn wirklich
braucht!
- "Tun Sie nichts Unüberlegtes",
- sage ich, um Zeit zu gewinnen, und weiche langsam in mein Büro
zurück. Frau Bezelmann rückt unbeeindruckt nach, die Flasche mit
flüssigem Stickstoff hoch erhoben.
- "Sie wissen, daß ich auf Kälte ganz und gar nicht gut
reagiere",
- warne ich, als ich den Fileserver in meinem Kreuz spüre. Zur Antwort
sprüht Frau Bezelmann eine ordentliche Ladung knapp an meinem Kopf vorbei.
Die Lufttemperatur in meinem Büro senkt sich
schlagartig.
- "Der Kaktus?" verlangt Frau Bezelmann drohend zu
wissen.
"Ja, richtig. Der ... äh ... der Kaktus ... Sie meinen doch
nicht den Haufen vertrockneter Stacheln auf der
Postablage?"
- Die Antwort ist ein weiterer Schwall flüssigen Stickstoffs. In der
heißen, feuchtigkeitsgesättigten Luft kondensieren dicke
Dampfschwaden. Die Raumtemperatur beginnt bereits, unangenehm kühl zu
werden. Marianne erwacht aus ihrem Hitzekoma und guckt benommen um
sich.
- "Der Kaktus!!"
- Hinter Frau Bezelmanns Rücken zieht sich Marianne langsam an einem
19-Zoll-Rack hoch und stolpert in Richtung Fenster.
- "Ach, Sie meinen Ihren Postkaktus! Ja ... äh ... Wo haben
Sie eigentlich den flüssigen Stickstoff her?"
- versuche ich ein paar kostbare Sekunden herauszuschinden, bis Marianne das
Fenster erreicht und die Flügel aufreißt.
Eine Woge eiskalter Luft ergießt sich in mein Büro und verwandelt
die heißfeuchte Luft schlagartig in undurchdringlichen Nebel. Ich tauche
blitzschnell unter meinen Schreibtisch ab. Über mir höre ich
flüssigen Stickstoff durch die Luft fauchen und Frau Bezelmann
gotteslästerlich fluchen. Aber der Stickstoff hilft nur, den Nebel noch
dichter werden zu lassen. Ich krieche wie ein tollwütiger Pavian auf
Händen und Füßen an der Wand entlang zur Türe und bringe
mich auf dem Gang in Sicherheit. Als ich mich umdrehe, steht der Chef keine
fünf Meter von meiner Bürotüre entfernt im hitzewabbernden Flur
und starrt mich mit hervorquellenden Augen an. Sein alttestamentliches
Patriarchengesicht ist dunkelrot angelaufen und er bläst rhythmisch die
Backen auf, während er unsicher auf mich zu stolpert. Plötzlich wird
hinter mir die Türe aufgerissen, und Frau Bezelmann rammt mir die
Stickstoffdose in den Rücken. Da erst sieht sie den Chef auf uns zu
taumeln und bleibt wie angewurzelt stehen. Einen Moment lang hört man nur
das krampfhafte Keuchen Mariannes, die an meinem Bürofenster Luft in ihre
verbrannten Lungen pumpt. Dann krächzt der Chef
mühsam:
- "Warum ... äh ... hrrrccch ... ähem ... warum
hat es ... äh ... ist es ... hrrccchhh ...
äh ... ist es heute nicht ... hrrrccchhh ... etwas
sehr ... äh ... temperiert ... äh ...
hier?"
- Frau Bezelmann zieht mißbilligend ihre Mundwinkel nach unten und
streckt energisch ihr spitzes Kinn vor:
- "Temperiert?" sagt sie in eisigstem Tonfall, den sie sonst für den
Chef reserviert hat, wenn er fragt, ob sie schon die Post vorbereitet hat, "im
Gegenteil: ich finde es eher etwas kühl heute!"
- Mit diesem Worten rauscht sie an uns vorbei in Richtung Sekretariat, wobei
sie nicht verabsäumt, mir im Vorbeigehen einen ihrer berühmten Blicke
zuzuwerfen; ein Blick, über dem in riesigen roten Leuchtbuchstaben ein
einziges Wort flackert:
- "Postkaktus!!!" Und dann beim zweiten Blick:
"Später!!!!!"
- Nach kurzem Nachdenken sage ich dem Chef, der allerdings nicht zuhört,
sondern nur krampfhaft nach Sauerstoff schnappt, daß ich noch diese
Stunde unerwartet zu einen wichtigen Meeting nach Johannesburg aufbrechen
müsse.
Wenn ich Glück habe, hat sich Frau Bezelmann bis zu meiner Rückkehr
etwas abgekühlt.
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