Das Leben könnte so wunderbar sein!
Ich könnte gemütlich in meinem Büro sitzen, die Schutzschilde
hochfahren und in aller Ruhe die Mailboxen der Verwaltung nach verwertbaren
Informationen abscannen. Oder auch nur einfach eine Runde DooM spielen, oder
mir eine DVD 'reinziehen, oder ...
Statt dessen hänge ich hier auf dieser beschissenen Felszacke fest! Und
die ist nicht mal 'virtual reality'; nein, die ist leider ziemlich real! Mehr
als mir lieb ist! Und der Abgrund unter meinen Schuhen
auch!
Um diese idiotische Situation einigermaßen erklären zu können,
muß ich etwas ausholen:
Die Studentenzahlen sind infolge der anerkennenswert hartnäckigen
Bemühungen unserer Bildungspolitiker zusammengeschmolzen wie Zitroneneis
in der Augustsonne. Jedes dritte Seminar mußte dieses Semester aus Mangel
an Teilnehmern ausfallen. Die Zauberformel heißt 'Studiengebühren'.
So einfach ist das! Wahrscheinlich hoffen unsere Berufspolitiker, im Laufe der
Zeit das mittlere Intelligenzniveau der Bevölkerung unter 70 IQ zu
drücken; dumme Wähler sind bekanntermaßen leichter zu
manipulieren als studierte Intelligenzbestien. Darüber hinaus bezahlen sie
(ich meine die Dummen, nicht die Intelligenzbestien) brav ihre Knöllchen,
von Steuern ganz zu schweigen, und sind schon vollends zufrieden, wenn es jeden
Tag entweder Fußball, Tennis oder Formel I im Fernsehen
gibt.
Mir kann das nur recht sein. Erstens ist das Netz deutlich weniger belastet,
wenn alle Bürger vor der Glotze hängen und sich ihre tägliche
Dosis Massensport 'reinziehen, und zweitens bedeutet jedes ausgefallene Seminar
für mich ein Gewinn von zwei Stunden zusätzlicher Freizeit auf
Staatskosten.
Das Leben könnte also wirklich wunderbar sein! (Ich sagte es ja
bereits!)
Könnte!
Bekanntlich führt Müßiggang zu Unruhe im Geist und
schlimmstenfalls sogar zu kreativen Ideen. Nichts ist schlimmer als ein Haufen
kreativer Mitarbeiter! Aber da die anderen am LEERstuhl mangels Studenten nun
mal genauso herumhängen wie ich, kommt es unweigerlich zu Situationen wie
der folgenden:
- Die versammelte Mannschaft (ohne den Chef, der wieder mal auf einer
Rundtour durch Asien ist) sitzt friedlich beim Nachmittagskaffee zusammen.
Plötzlich sagt der Kollege O. aus heiterem
Himmel:
- "Jetzt, wo wir soviel Zeit haben, könnten wir doch endlich mal wieder
einen Betriebsausflug machen. Wir hatten seit mindestens fünf Jahren
keinen Betriebsausflug mehr!"
- Ich mache den Mund auf, um zu sagen, daß so etwas nur das ruhige
Betriebsklima störe, aber Marianne kommt mir
zuvor:
- "Auja! Das ist eine geniale Idee. Wir könnten ins Alpamare nach Bad
Tölz fahren und uns den ganzen Tag verwöhnen lassen wie das letzte
Mal!"
- Ich weise darauf hin, daß Betriebsausflüge generell ein
großes Risiko darstellen und daß seit dem vorletzten
Betriebsausflug vor acht Jahren, einer Raftingtour auf der Loisach, immer noch
zwei Diplomanden als vermißt gelten, aber natürlich hört mir
keiner zu. Alle stürzen sich auf die Idee wie ein Rudel völlig
ausgehungerter Serengeti-Hyänen auf eine halbe Wagenladung gefrorener
MacDonalds-Hamburger.
Der Vorschlag vom Kollegen Rinzling, den neuesten Kernspin-Tomographen im
Uni-Klinikum zu besuchen, erntet nur Hohngelächter. Auch Jennys Idee, eine
Floßfahrt auf der Isar zu machen, wird als alter Hut abgetan. Frau
Bezelmann schlägt vor, den LEERstuhl in zwei Mannschaften aufzuteilen und
einen Military-Contest zu veranstalten. Aber Marianne und Jenny sind strikt
dagegen, als sie erfahren, daß bei solchen Freizeitvergnügungen
unter anderem mit roten Farbpatronen geschossen wird, die im schlimmsten Fall
die ganze Frisur verderben könnten.
- "Ich weiß was", sagt Yogi Flop, unser esoterisch verdorbener
Physiker, "wir machen ganz einfach ein Bergtour. Wozu wohnen wir ganz nahe an
den Bergen? Eine richtige Bergtour mit Picknick am
Gipfel!"
- Mir wird schon vom Zuhören übel! Hastig schlage ich als
Alternative eine virtuelle Tour durch die heißesten Chatrooms des
Internets vor. Schließlich sei das unserem Ruf als HighTech-Institut an
der vordersten Front der Wissenschaft wohl eher angemessen als die Besteigung
irgendeines doofen Gesteinshaufens, der schon seit Jahrmillionen nur so in der
Landschaft herumsteht und der bestimmt schon Milliarden Male von irgendwelchen
Idioten bestiegen wurde, deren Intelligenzquotient sich seit der Zeit der
Neandertaler nicht mehr geändert hat.
Wenn ich gewußt hätte, was jetzt als nächstes kommt, hätte
ich natürlich das Maul gehalten. Der Kollege O. zieht die Stirne
kraus und sagt:
- "Leisch hat recht. Eine einfache Bergtour ist langweilig. Wir sollten eine
Erstbesteigung machen! Das wäre doch etwas richtig Zünftiges für
einen Betriebsausflug!"
- Alle (außer Nero und mir) sind begeistert.
Ich könnte den Kollegen O. erschlagen! Ich könnte mich
ohrfeigen, daß ich überhaupt etwas gesagt habe!
Marianne wirft mir einen vielsagend-schrägen Blick zu und sagt
schnippisch:
- "Aber daß diesmal nicht wieder die Hälfte einfach blau macht, so
wie das letzte Mal ..."
- Ich erkläre würdevoll, daß ich auf Chlorwasser allergisch
reagiere und deshalb beim letzten Gruppenersäufnis nicht dabei gewesen
sei.
- "Aber gegen Berge kannst du schlecht allergisch sein", sagt Marianne
triumphierend, "und im Herbst blüht auch nix mehr. Diesmal gibt's
keine Ausreden!"
Zwei Wochen später sitze ich mit den anderen zusammengepfercht in einem
vierradgetriebenen VW-Bus, der durch die Wildnis des Voralpenlandes rumpelt.
Meine Füße tun mir jetzt schon weh von den ungewohnten
Schraubstöcken, die die anderen 'Bergstiefel' nennen, und meine Stimmung
ist auf ein Fünfzehn-Jahres-Tief gesunken.
Der Kollege O. hat es tatsächlich geschafft, einen unbedeutenden
Nebengipfel ausfindig zu machen, der angeblich noch niemals, jedenfalls nicht
nachweislich, bestiegen worden sei. Als wir am Anstieg sind, und ich zu der
ausgewählten Felsspitze hinauf blicke, verstehe ich auch sofort warum: nur
ein vollkommener Idiot könnte auf die Idee kommen, da rauf zu kriechen,
wenn unten im Tal eine gemütliche Hütte mit allem Komfort zu finden
ist. Sogar eine Satellitenschüssel ist auf dem bäuerlichen Holzdach
montiert. Ich schlage vor, die Operation von der Hütte aus mit dem
Fernglas zu lenken und dem Team strategische Anweisungen über
Walkie-Talkie zu geben, aber davon will niemand was wissen. Seufzend lasse ich
den Laptop und die Funkgeräte im Wagen und nehme nur den Palmtop mit dem
Funkmodem mit.
- Zwei Stunden später sind wir immer noch genauso weit von der
blöden Felszacke entfernt wie vorher, und alle sind völlig fertig vom
Klettern durch das unwegsame Gelände. Als wir eine Verschnaufpause
einlegen, sehe ich eine winzige weiße Wolke am sonst ekelhaft blauen
Himmel auftauchen (genau dasselbe ekelhafte Blau übrigens wie in
Windoofs 98!).
- "Vielleicht gibt's ja ein Gewitter", keuche ich hoffnungsvoll und deute
auf die Wolke.
"Unmöglich!" japst Marianne, "der
Wetterbericht ..."
"Wann hast du denn den Wetterbericht gehört?" erkundige ich mich
unschuldig.
"Äh ... gestern ..."
"Na, da kann sich aber einiges getan haben, seit gestern. Ist ja bekannt,
daß das Wetter in den Bergen blitzschnell umschlagen kann, oder
nicht?"
- Die anderen müssen zögernd zugeben, daß dem so
ist.
- "Also", sage ich und hole meinen Palmtop und das Funkmodem heraus. "Dann
sollten wir mal den neuesten Bergwetterbericht
abrufen ..."
- Ich klicke mich in die Seiten des Alpenvereins und reiche das Gerät an
Frau Bezelmann weiter, damit niemand behaupten kann, ich würde den
Wetterbericht schlechter machen, als er ist.
(Frau Bezelmann ist übrigens heute trotzdem in Military-Outfit erschienen:
Khaki-Kampfanzug und Springerstiefel; Nero klammert sich an ihrem Stahlhelm
fest. Wahrscheinlich will sie damit stumm zum Ausdruck bringen, daß sie
ihren Vorschlag immer noch für den besseren
hält ...)
- "Bergwetterbericht bis heute abend", liest Frau Bezelmann laut vor, "Von
Nordosten nähert sich rasch eine Kaltfront, die im Laufe des Tages auf den
Alpennordkamm trifft. Vormittags noch weitgehend sonnig und kein Niederschlag;
nachmittags heftige Gewitter teilweise mit Hagel und Absinken der
Schneefallgrenze auf unter 800 Meter; Sturmvorwarnung Stufe II
für folgende oberbayerische Seen ..."
"Oh!" sagt Jenny entgeistert, "ist das wirklich der Wetterbericht von
heute?"
- Frau Bezelmann bestätigt das heutige Datum auf der Web-Page und
drückt zur Sicherheit nochmal auf den 'Reload-Button'. Alle schweigen
betroffen (außer mir: ich schweige unbetroffen!).
Was niemand wissen kann: Diese Variante des Wetterberichts habe ich gestern
nacht in den Cache des Palmtops geladen und die Proxytabellen ein wenig
manipuliert.
Wie auf ein Kommando drehen sich plötzlich alle um und starren auf das
harmlose Wölkchen am Horizont.
- "Ich glaube, sie ist größer geworden", bemerkt Jenny
nervös, "meint ihr nicht?"
- Auch der Kollege Rinzling meint, daß es besser wäre, kein Risiko
einzugehen. Er habe keine Lust, sich in einem Schneesturm die dritte
Lungenentzündung dieses Jahr zu holen. Schließlich läßt
sich auch der Kollege O., als inoffizieller Leiter der Erstbesteigung,
zögernd dazu überreden, daß man besser absteigen sollte, bevor
der Blizzard losbreche.
- "Gut",
- sage ich betont neutral, obwohl ich innerlich triumphiere, und gucke mich
nach dem Abstieg um. Dabei stolpere ich über eine dieser teufelszähen
Latschenwurzeln, verliere das Gleichgewicht, renne ein Stück den Abhang
hinab, um nicht der Länge nach hinzuschlagen ... tja, und
plötzlich ist da nichts mehr, um darauf zu rennen!
Ein paar Sekundenbruchteile lang erfahre ich am eigenen Leibe den Horror aller
bemitleidenswerten Leute, die aus Versehen in das Flugzeug einer
Fallschirmspringerschule geraten sind.
Dann lande ich mit einem gewaltigen Krachen, das mir alle Knochen
durchschüttelt, auf einem kleinem Felsvorsprung, kaum drei Meter unterhalb
der Felskante, über die ich gerade hinweg gesegelt bin. Jetzt kann ich die
lächerlichen Monster in Dumb Riders etwas besser verstehen, daß sie
immer so grauenhaft brüllen, wenn man sie in den Abgrund stößt.
Hier brüllt jemand ganz ähnlich. Ein paar Sekunden später merke
ich, daß ich es selbst bin.
- "Leisch! Bist Du ok?!" brüllt jemand irgendwo über
mir.
"Ganz prima!!!" brülle ich zurück und klammere mich so fest es geht
an den Felsbrocken, auf dem ich gelandet bin. "Ich genieße wirklich jede
Sekunde dieses Betriebsausflugs!!!"
- Während die Kollegen oben beratschlagen, wie man mich wieder hinauf
bringen könnte, gucke ich vorsichtig nach, warum es da so um die Ecke
zieht. Als ich die atemberaubende Aussicht in 200 Metern Tiefe erblicke,
mache ich die Augen ganz schnell wieder zu und verfluche stumm für eine
Million Male den Kollegen O. und seine grandiose Idee einer
Erstbesteigung.
Und deshalb hänge ich jetzt auf diesem sehr realen Felsvorsprung und
warte, daß man mich rettet.
Schließlich brüllt der Kollege O.:
- "Wir haben leider nichts, um dich heraufzuziehen! Wir versuchen, über
dein Funkmodem die Bergwacht zu alarmieren. Aber da kommt immer so eine
komische Proxy-Fehlermeldung!"
- Mist! Ich hab' ja den Palmtop so konfiguriert, daß er nur noch aus
dem Cache liest.
- "Ihr müßt den Cache komplett löschen, dann die Proxies
austragen und dann neu booten!" brülle ich.
"Was?! Ich verstehe nicht ... Ich soll mich als root
einloggen?!"
"Den Cache löschen!!!"
"Was für einen Cache denn?!"
- Manchmal könnte man an der Dummheit der Leute verzweifeln, nicht? In
diesem Augenblick kommt 'zufällig' ein Hubschrauber der
Gebirgsjägerkompanie Mittenwald um die Ecke und nimmt sich unser an.
Wahrscheinlich hat mein Supervisor im 7. Höllenkreis mitbekommen, in
was für einer blöden Klemme ich gerade stecke, und hat einem B.M.f.H.
('Bastard Military from Hell') einen Tip gegeben. Na, das wird wieder ein
hübscher Eintrag in meiner höllischen Personalakte
werden ...
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