Es ist Frühling, es herrscht grauenhaft schönes Wetter, die
Hausmeister zwitschern in den Zweigen und die Amseln düngen den Rasen vor
der Uni-Bibliothek ...
Quatsch! Natürlich umgekehrt! Da sieht man's mal wieder: ich bin schon
total durchgedreht! Alles redet von neuer Energie und Frühlingserwachen,
aber ich bekomme von der hellen Sonne Kopfschmerzen und durch das offene
Fenster wehen riesige gelbe Pollennebel des Grauens
herein!
Ich beschließe, allem zum Trotz schlechte Laune zu haben, lasse
die Jalousien ganz herunter und vergrabe mich hinter meinen drei
Workstations. Jetzt erst recht! Mal sehen, wer den längeren Atem hat:
der Frühling oder ich!
- Es klopft, und trotz hochgefahrener Schutzschilde streckt der Kollege O.
seinen grinsenden Schädel in mein Allerheiligstes. Er sieht wieder mal
geradezu ekelhaft gut erholt aus; wahrscheinlich war er gestern wieder im
Fitness-Club, und seine Co-Masochisten haben ihn zum Spaß für
fünf Stunden auf eine Sonnenbank geschnallt.
Bevor er den Mund aufmachen kann, knurre ich:
- "Wie siehst DU denn aus! Leidest du seit neuestem unter
Bluthochdruck?"
"Äh ... wieso?"
"Weil du einem Puter in Angriffsstellung mehr ähnelst als einem Exemplar
der Spezies homo sapiens erectus studiosus!"
"Ich war übers Wochenende beim Skifahren", erklärt der
Kollege O. beleidigt, "auf dem Gletscher."
"Und?"
"Was: und?"
"Was gebrochen?"
"Natürlich nicht!"
"Schade ..."
- Ich klicke grimmig in meine linke Workstation. Der Kollege O. scharrt
verlegen mit seinen zu großen Füßen.
- "Äh ... wir wollten eigentlich zum Mittagessen in den
Biergarten ..."
- Ich gebe einen unbestimmten Laut von mir und lasse meine mittlere
Workstation stöhnen:
"Jah ...uhh ...jaaahhh!"
- "Willst du nicht mitkommen?"
- Ich werfe ihm einen Blick zu, als hätte er vorgeschlagen, zum Lunch
einem Studenten bei lebendigem Leibe das Großhirn auszulöffeln.
Draußen auf dem Gang schreit Marianne ungeduldig, warum wir denn nicht
kommen.
- "Moment noch!" schreit der Kollege O.
zurück.
"Kommt Frau Bezelmann auch mit?" frage ich ungnädig.
"Äh ... ja, ich denke schon ..."
"Bringt sie ihren Raben mit?"
"Nero? Ich weiß nicht ... vielleicht ..."
- Ich seufze und wende mich wieder der linken Workstation
zu.
- "Das letzte Mal im Biergarten hat der Killerrabe eine Bedienung attackiert
und anschließend dem hinzugezogenen Polizisten auf die Dienstmütze
gekackt. Wir mußten alle ein Bußgeld wegen Mißachtung von
Hoheitsabzeichen zahlen ..."
- Der Kollege O. verdreht die Augen zur Decke.
- "Gott! Das ist doch schon Jahre her!"
- Ich verziehe schmerzhaft das Gesicht.
- "Bitte nicht dieses Wort!"
"Häh?"
"Vergiß es. Ich komme nicht mit."
"Aber warum ...?"
"Ganz einfach", sage ich und zähle mit den Fingern mit. "Erstens ist die
Sonne draußen zu hell, zweitens bin ich allergisch gegen
Kastanien-Pollen, drittens kommt der Monsterrabe mit, viertens ist es zu warm
in der Sonne und zu kalt im Schatten, fünftens kostet das Bier im
Biergarten das dreifache vom Normalen, weil alle Japaner dort unbedingt eine
Maß kaufen müssen, sechstens mag ich keine Japaner, jedenfalls
nicht, wenn sie im Biergarten um mich herumsitzen und versuchen, mich beim
Saufen zu photographieren, siebtens gibt es beim Biergarten keinen Parkplatz,
achtens kann man sich auf Bierbänken nicht anlehnen, neuntens mag ich
sowieso kein Bier und zehntens habe ich schlechte Laune und möchte sie
gerne noch weiter behalten, damit ich diese Vordiplomsprüfung
vernünftig hinbekomme."
- Der Kollege O. starrt mich mit offenem Munde an. Marianne streckt den
Kopf zur Türe herein:
- "Was ist denn jetzt: kommt ihr oder nicht?"
"Und elftens", fahre ich genüßlich fort, "hasse ich es, wenn ich zum
Essen getrieben werde, wenn ich gerade erst gefrühstückt
habe."
"Wenn du nicht erst um halb zwölf ins Büro kommen würdest,
hättest du damit keine Probleme", giftet
Marianne.
- Ich fühle, wie ich allmählich in Schwung komme; sogar das Kopfweh
läßt etwas nach.
- "Wenn ich dagegen früher komme, heißt es wieder, ich würde
nur so früh da sein, damit ich noch die User-Mail lesen könne, bevor
die Mitarbeiter sie vom Server herunterladen."
- Marianne bekommt einen dunkelroten Kopf.
- "Wenn ich dich einmal erwische, daß du in meiner email
schnüffelst, hänge ich dich an den Eiern auf!"
"ICH behaupte ja nicht, daß ich so etwas Verwerfliches tue!" kontere
ich beleidigt. "DU hast das letzte Woche beim Kaffeetrinken in der
Bibliothek gesagt!"
- Marianne schnappt nach Luft.
- "Moment Mal", mischt sich der Kollege O. verwirrt ein, "da war Leisch
doch gar nicht dabei ..."
- Anfänger! Hat wohl noch nie was von eingebauten Mikrophonen in
vernetzten Workstations gehört. Manchmal frage ich mich, was der
Kollege O. in all den Jahren überhaupt gelernt
hat!
- "Wenn ich den erwische, der da wieder getratscht hat", schäumt
Marianne, "dem ... der ..."
- Eigentlich mag ich es, wenn Marianne sich erregt. Ich fühle, wie sich
langsam Wohlbehangen in meinem Eingeweiden ausbreitet. Fast hätte ich
jetzt sogar Lust mit in den Biergarten zu gehen ...
Frau Bezelmann kommt mit der Haltung eines Brigadegenerals in mein Büro
marschiert; der teuflische Rabe Nero thront auf ihrer linken Schulter und
taxiert alle Anwesenden mit seinen giftig-gelben
Knopfaugen.
- "Gehen wir jetzt heute noch, oder was?"
- zischt sie mit ungnädig herab gezogenen Mundwinkeln. Sie guckt erst
die anderen, dann mich an. Schließlich deutet sie mit dem spitzen Kinn
auf mich.
- "Macht er mal wieder Ärger?"
"Genau!" sage ich sarkastisch, "ER macht mal wieder Ärger! ER hat
nämlich keine Lust in Begleitung eines Bedienungen mordenden Raben in
einen Biergarten zu gehen, bloß weil heute zufällig mal die Sonne
scheint und das biersaufende Proletariat meint, es müsse in geschlossenen
Kolonnen in die Biergärten ziehen ..."
"Ich habe auch keine besondere Lust dazu, mich unter das grölende,
biersaufende Proletariat zu mischen. Trotzdem gehe ich mit. Das nennt man 'sich
sozialisieren'!" zischt Frau Bezelmann. "Aber dieses Wort existiert
wahrscheinlich gar nicht in Ihrem Wortschatz ..."
"Ich sozialisiere mich lieber mit meinem Pentium III als mit dem
Killerraben auf Ihrer Schulter", kontere ich.
"Ich hoffe, Sie betrachten Ihre Kollegen nicht auch als Mitglieder des
grölenden, biersaufenden Proletariats", bemerkt Marianne spitz zu Frau
Bezelmann.
"Ich verstehe immer noch nicht, wieso er das mit den Mailboxen wissen konnte",
murmelt der Kollege O. verstört dazwischen.
"Was? Mailboxen? Wieso Mailboxen?"
- fragt Frau Bezelmann irritiert, die gerade tief Luft holt, um Marianne
über den Mund zu fahren. Marianne beginnt zu erklären, worum es geht,
wird aber von unserer Putzfrau unterbrochen, die gerade zur Türe
hereinkommt. Sie hat zur Feier des Tages ihr übliches dunkelblau-kackbraun
gemustertes Kopftuch mit einem grell-pinken Hut
vertauscht.
- "Ne? Mechten wir necht allebald gehe, Härr Laisch?" fragt sie mich
übers ganze Gesicht strahlend.
- Frau Bezelmann und der Rabe erstarren zu Eis. Beide sind nämlich
äußerst standesbewußt. Ihrer Auffassung nach ist das
Putzpersonal mindestens vierzehn Ebenen unter dem Stand des Raben anzusiedeln.
Wo Frau Bezelmann sich selber in der Hierarchie ansiedelt, weiß man nicht
so genau; vermutlich aber irgendwo zwischen Staatsminister und
Bundespräsident.
- "Äh ... wohin denn?" will der Kollege O. vorsichtig
wissen.
"Ne! Wos! In den Biägarten doch eben! Unsär Härr Professor mech
eingeladen, necht? Sel kommt och glaich ..."
"Aber natürlich!" sage ich zuckersüß. "Und was für eine
entzückende Kopfbekleidung Sie heute dabei haben! So farbenfroh, wirklich!
Freuen Sie sich schon auf den Biergarten?"
- Die Putzfrau strahlt und läßt einen völlig
unverständlichen Schwall von Worten auf uns los. Marianne und der Kollege
O. lassen ein mühsam unterdrücktes Stöhnen hören. Frau
Bezelmann schießt einen ihrer berühmten Tötungsblicke auf mich
ab. Die Putzfrau ist bekannt dafür, daß sie jeden innerhalb eines
Umkreises von siebeneinhalb Metern in Grund und Boden redet. Das wäre ja
noch gar nicht so schlimm. Das Schlimme daran ist, daß man die ganze Zeit
dabei nicht versteht, worum es eigentlich geht.
- "Ähm ... wenn ich's mir recht
überlege",
- beginnt der Kollege O., aber schon hören wir den Chef auf dem
Gang rufen:
- "Äh ... hallo ... ähm ... ist jemand ...
hrrrm ... ist hier überhaupt noch jemand ...
äh ...?"
"Wir sind alle hier drin!"
- ruft Marianne, und gleich darauf streckt der Chef seine weises Haupt
herein - mit dem schönsten Soziallächeln, das er auf Lager
hat.
- "Ach ... ähm ... wie schön ... hmm ... alle
vereint, wie ... ähm ... wie eine ... hmm ... eine
große, glückliche Familie, nicht? Gehen wir jetzt dann in
den ... ähm ... den Biergarten?"
- Frau Bezelmann, der Kollege O. und Marianne fangen alle gleichzeit an
zu reden und zeigen unisono mit anklagendem Zeigefinger auf mich und die
Putzfrau. Die Putzfrau bekommt den richtigen Eindruck, daß der Mann, der
ihr ein Kompliment über ihren tollen Hut gemacht hat, in Schwierigkeiten
ist, und mischt sich aufgeregt ins Sprachgetümmel. Der Rabe Nero
krächzt begeistert so laut er kann und schlägt wild mit den
mottenzerfressenen Flügeln. Der Chef guckt völlig verwirrt von einem
zum anderen, schließlich hebt er verzweifelt beide Hände, um dem
unerwarteten Aufruhr Einhalt zu gebieten. Alle verstummen nach und nach (der
Rabe als letzter), und der Chef öffnet gerade den Mund, als es
plötzlich heftig blitzt und ein gewaltiger Donnerschlag uns alle
zusammenzucken läßt.
Ich lasse die Jalousien hochfahren, und siehe: Die Natur hat ein Einsehen
gehabt, und das herrliche Sommerwetter ist einem ebenso herrlichen Gewitter
gewichen - wie es nunmal in April so vorkommt.
Alle Anwesenden, außer der Putzfrau, atmen erleichtert auf.
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