- Kurz nach der Entdeckung der drahtlosen Telegraphie hatte sich der relativ
unbekannte britische Ökonom Roger Bilmes in begeisterten
Zukunftsphantasien ergangen: Wäre es nicht "wunderbar, ja geradezu
begeisternd, wenn ein Herr oder eine Firma all ihre Bediensteten (wörtlich
'underlings') mit tragbaren Telegraphie-Geräten ausstatten könnte,
welche mit einer sinnreich entworfenen Einrichtung so auf der Schulter
befestigt würden, daß der Herr seine Befehle jederzeit und an jedem
Ort direkt in das Ohr seiner Subjekte vermitteln könnte?"
Umständliche Befehlsübermittlung, fehlerhafte Order etc. wären
ein Ding der Vergangenheit; alle Bediensteten würden effektiver und
länger arbeiten können, und die Wirtschaft einem goldenen Zeitalter
entgegengehen. Und all das sei der glorreichen Erfindung der drahtlosen
Telegraphie zu verdanken!
Auf dem Weg zum LEERstuhl begegnen mir ca. 200 Leute auf der Straße.
Etwa 140 davon haben ein Handy am Ohr!
Leider sehen sie nicht so aus, als ob sie präzis formulierte Order
für ihren Arbeitstag entgegen nehmen
würden ...
Armer Roger Bilmes!
Nebenbei bemerkt (ich kann es nicht lassen!), sind 100 der 140
Handy-Träger weiblich.
Im LEERstuhl zeigt mir Frau Bezelmann stolz ihre neueste Errungenschaft: ein
winziges Schmuck-Handy für den Raben Nero, das so leicht ist, daß er
es sogar im Flug um den Hals gehängt tragen könne. Als ich darauf
hinweise, daß Nero weder wählen noch sprechen könne, meint Frau
Bezelmann schnippisch, darauf komme es gar nicht an. Und überhaupt
würde ich nichts von Mode verstehen.
Auf dem Weg zum Kaffeeautomaten (aus Restgeldern eines DFG-Projektes
finanziert) begegne ich Marianne - natürlich mit dem Handy am Ohr
(Statistik ist doch etwas Wunderbares!). Als sie mich erblickt, beendet sie ihr
Gespräch und fragt mich, ob ich das Buch, das sie mir geliehen hat, schon
ausgelesen hätte. Das Buch heißt übrigens 'Warum Frauen
kommunizieren und Männer lieber Autos
reparieren'.
- "Ja, habe ich",
- sage ich,
- "allerdings kann ich der Autorin nicht in allen Punkten
zustimmen."
"Warum?"
- fragt Marianne mit kritischem Blick.
- "Zum Beispiel wird dort die These aufgestellt, daß Männer
deshalb weniger kommunizieren, weil ihre Gehirne im Zuge der Evolution
dafür nicht entsprechend ausgestattet wurden. Du weißt schon:
Jäger dürfen nicht ständig reden etc."
"Na, und?"
"Ich habe eine andere Theorie: Männer kommunizieren deshalb nicht so viel,
weil sie herausgefunden haben, daß 95% der Unterhaltung redundant sind.
Und da Männer logisch und effektiv denken können, verzichten sie
lieber oder beschränken sich auf das
Wesentliche."
- Marianne schnaubt verächtlich:
- "So ein Quatsch!"
- Wir betrachten uns eine Zeitlang schweigend über den Rand unserer
Kaffeetassen. Ich kann jetzt nix mehr sagen, weil ich gerade verkündet
habe, daß Männer nur Wesentliches von sich geben, und im Moment
fällt mir nix Wesentliches ein. Marianne dagegen kann nix sagen, weil sie
natürlich meine These widerlegen will, daß Frauen hauptsächlich
Redundantes von sich geben.
Habt ihr schon mal versucht, eine Weile nur Wesentliches zu sagen? Ich meine,
abgesehen von 'Ober, noch ein Helles!' oder 'Gib' mal die Fernbedienung
'rüber!'?
Gar nicht so leicht, was?
Glücklicherweise, und bevor das feindselige Schweigen in Peinlichkeiten
ausartet, betreten Frau Bezelmann und Jenny die Kaffeeküche. Jenny ist in
ihrem üblichen Zustand gesteigerten Liebeskummers, und Frau Bezelmann hat
offensichtlich einen ihrer seltenen Anfälle von Mütterlichkeit, die
sie manchmal gegenüber weiblichen Studentinnen und Mitarbeiterinnen an den
Tag legt. Beide sind so in ihrer Konversation vertieft, daß sie Marianne
und mich gar nicht bemerken.
- "Er hat mich einfach 13 Minuten lang vor dem Lokal warten
lassen!"
- schnieft Jenny verzweifelt.
- "Oh, Liebes, ich WEISS! Das ist FURCHTBAR!"
"Und ... und wie er dann ENDLICH gekommen ist ... hat er sich nicht
mal dazu geäußert. KEIN Wort der
Entschuldigung!"
"Oh, Liebes, ich WEISS! Wie FURCHTBAR!
"Alle Männer sind Schweine!"
"Oh, Liebes, ich WEISS! Ganz FURCHTBAR!"
"Was soll ich denn jetzt sagen, wenn er das nächste Mal zu spät
kommt?"
"Oh, Liebes, ich WEISS nicht! Wie FURCHTBAR ist das
alles!"
"Soll ich ... soll ich ÜBERHAUPT was sagen?"
"Oh, Liebes, ich WEISS nicht! FURCHTBAR schwierig!"
"Er hört mir ja SOWIESO nicht zu!"
"Oh, Liebes, ich WEISS! ALLE Männer sind furchtbar!"
"Ich sollte ihn das nächste Mal einfach zwei Stunden warten
lassen!"
"Oh, Liebes, ich WEISS nicht! Das kann FURCHTBAR enden!"
"Aber was soll ich denn MACHEN, wenn er wieder zu spät
kommt?"
"Oh, Liebes, ich WEISS! FURCHTBARE Entscheidung!"
- Kaum sind Frau Bezelmann und Jenny aus dem Zimmer, mache ich den Mund auf,
um etwas Nicht-Redundantes von mir zu geben. Aber Marianne funkelt mich so
wütend an, daß ich es mir anders überlege und den Mund wieder
zuklappe. Wenn ich es mir genau überlege und Mariannes wütenden
Gesichtsausdruck anschaue, war es wahrscheinlich doch
redundant.
Der Chef betritt die Kaffeeküche.
- "Morgen!"
- knurrt er kaum verständlich. Es klingt eher wie 'Mrrgn', aber in dem
Kontext kann es nur 'Morgen' heißen.
- "Morgen, Chef!"
- murmeln wir beide gehorsam.
Der Chef wartet in düsterem Schweigen, während sich seine Tasse mit
Cafe Latte füllt.
Drei Löffel Zucker, umrühren. Nach einem ersten, vorsichtigen Schluck
fällt sein Blick auf mich:
- "Wie viele ... äh ... wie viele Seiten hat die ...
ähm ... die ... Ihre Diss inzwischen?"
"Vierundneunzig",
- phantasiere ich rasch.
- "Gut!"
- sagt der Chef und geht hinaus.
Ich schaue Marianne an und sage kein (redundantes) Wort. Marianne sagt
ebenfalls kein Wort und rauscht mit hochrotem Kopf an mir vorbei. Zehn Sekunden
später zuckt der ganze LEERstuhl zusammen, weil Marianne versucht, mit
ihrer Bürotüre ein Erdbeben der Stärke sieben zu
simulieren.
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