Montag Morgen. Ich gucke 'The Godfather II', um mich auf die neue Woche
einzustimmen. Wirklich schade, daß Kalaschnikows heutzutage an der Uni
nicht mehr gern gesehen werden ...
Nach der ersten DVD fühle ich mich ein wenig eleven-clockish und verlasse
mein Allerheiligstes um nachzuschauen, ob Marianne vielleicht noch Kekse in
ihrem Büro herumliegen hat. Während ich noch mit dem Dietrich an
Mariannes Tür 'rumfummele, bemerke ich einen Typen in schwarzer Kutte
durch den Gang auf mich zu wanken. Er ist nicht sehr groß, nicht sehr
robust, sehr bleich mit einer hohen Stirn, die irgendwie an Frankensteins
Monster erinnert. Dieser Eindruck wird noch dadurch unterstrichen, daß
sein ganzes Gesicht mit blutigen Kratzern übersäht ist. Der Typ tupft
die schlimmsten Stellen vorsichtig mit einem nicht mehr ganz frischen
Taschentuch ab, während er weiter auf mich zu
stolpert.
Nun leben in unserem Gebäude, wie schon mehrfach erwähnt, immer noch
auch ein ganzer Haufen Theologen unterschiedlichster Ausprägung:
Moraltheologen, Militärtheologen, Alttestamentler, Schismatiker,
Neutestamentler, Augustiner und Franziskaner (nicht zu verwechseln mit den
Brauereien!), um nur einige zu nennen. Gestalten in Kutten oder hanfenen
Lendenschurz, die sich mit Geißeln peinigen, sind daher keine unbedingte
Neuigkeit. Trotzdem geht von den Typen in der schwarzen Kutte eine bestimmte
Aura aus, die mich neugierig macht. Wie um meinen Gedanken zu bestätigen,
nimmt der Typ einen Palm aus der Innentasche seiner Kutte und macht ein paar
rasche Eintragungen, während ihm das Blut vorne in die Kutte tropft. Ein
Theologe mit Palm? Die üblichen Gottesschüler haben gerade erst
mitbekommen, daß das Telefon mit Drehscheibe erfunden wurde!
- "Ich grüße Sie", sage ich neutral. "Schönes Wetter heute,
nicht wahr?"
- Der Typ hebt den Kopf und wischt statt einer Antwort noch einmal über
seine zerfetzte Stirn.
- "Nein, gar nicht", sagt er dann mit metallischer Stimme. "Es regnet sogar
gerade."
"Stimmt. Aber manche Leute finden auch Regen ganz schön, nicht
wahr?"
- Der Typ überlegt eine Sekunde, dann nickt
er.
- "So gesehen, könnte man sagen, daß es für bestimmte Leute
heute schönes Wetter ist, ja."
- Er nickt dreimal befriedigt mit dem Kopf und faltet sein blutiges
Taschentuch dreimal zusammen und steckt es in die
Tasche.
- "Äh ... darf ich fragen, was mit Ihnen passiert ist? Ein
Unfall?"
- Der Typ wirft sich in Pose: "Nein, ich glaube nicht, daß man das als
Unfall bezeichnen könnte. Ein Frau hat mir das Gesicht zerkratzt, nachdem
ich versucht hatte ihr zu erklären, daß die Wahrheit das
höchste Gut ist, das es zu wahren gilt. Die Liebe zur Wahrhaftigkeit ist
die letzte große Berufung des Christenmenschen. Alles Böse wäre
eitel, wenn alle Menschen durch und durch wahrhaftig wären. Ich bin Bruder
Theodorus, der Verfechter der absoluten reinen Wahrheit."
"Interessant", sage ich. "Das alles haben Sie der Frau auch gesagt, und dann
hat sie einfach so Ihr Gesicht zerkratzt?"
"Äh ... ja ... nein ... ich mußte ihr auch noch in
aller Wahrheit sagen, daß ihre Schminke eine einzige Lüge darstelle,
und daß sie daher davon ablassen und in sich gehen und in Zukunft der
Wahrheit nachfolgen solle ... Außerdem waren ihre Schuhe
grauenhaft!"
"Ah, ich verstehe!"
"Wirklich?" fragt Theodorus und taxiert mich mit scharfem
Blick.
"Oh ja, ich versuche auch, immer die Wahrheit zu
sagen."
- Theodorus seufzt und hebt den Blick kurz zur spinnwebenverhangenen
Decke.
- "Mein Sohn, das ist nun entweder die Wahrheit oder eine ganz dreiste
Unwahrheit. Und wer bin ich, daß ich den Dingen auf den letzten Grund
blicken könnte. Aber Sie sollten meinen Ratschlag auch befolgen, mein
Sohn: sei wahrhaftig durch und durch!"
"Ich werd's mir überlegen, Bruder. Darf ich frage, welchem Orden Sie
angehören? Ihr Habit kommt mir nicht bekannt
vor ..."
"Dem Orden der wahrhaftigen Brüder, mein Sohn!"
"Ehrlich gesagt: nie gehört. Haben Sie viele
Mitglieder?"
"Ich bin Ordensgründer und einziges Mitglied" erwidert Bruder Theodorus
würdevoll.
"So! Warum denn?"
- Bruder Theodorus wirft mir einen Blick zu, den ein billiger Romanautor
'bedeutsam' nennen würde.
- "Bis jetzt hat leider niemand außer mir es vollbracht, vollkommen in
der Wahrheit leben."
"Aha? Ich sehe, daß Sie tatsächlich immer die Wahrheit sagen,
Bruder."
"Selbstverständlich, mein Sohn. Die
Wahrheit ..."
In diesem Moment kommt Marianne vom Shopping zurück. Sie strahlt mich an:
"Oh, Leisch! Du glaubst es nicht, was ich gerade ergattert habe ... ein
absoluter unglaublicher Glücksfall ... solche Pumps suche ich schon
seit über zwei Jahren ... und unglaublich günstig: keine
300 Mark ... schau dir das bloß an ... sind die nicht ganz
phantastisch?"
- In Windeseile angelt Marianne, trotz daß sie alle Hände voll
Einkaufstüten und ihren Posaunenkasten auf den Rücken geschnallt hat,
einen lila Schuhkarton heraus, stellt zwei abgrundtief geschmacklose,
glänzende, pinke Ungetüme vor uns auf den Boden und zwängt ihre
zu großen Füße in die spitzigen
Folterwerkzeuge.
- "Na? Was sagst du nun ...?"
"Äh ...", sage ich verzweifelt, "äh ... wie finden Sie denn
die Schuhe, mein lieber Bruder Theodorus?"
- Bruder Theodorus schielt ziemlich unglücklich auf die Schuhe herab. Er
ist übrigens gut einen Kopf kleiner als Marianne. Theodorus holt tief Luft
und kneift fest die Augen zusammen:
- "Diese Schuhe sind abgrundtief geschmacklose, glänzende, pinke
Ungetüme und für Ihre Füße viel zu klein, meine
Tochter!"
- Marianne läßt vor Schreck alle Tüten fallen. "Waaas?!"
kreischt sie und mit einer einzigen fließenden Bewegung, die auf
mehrjährige Kampferfahrung schließen läßt, zieht sie den
Posaunenkasten über die linke Schulter und verpaßt dem wahrhaftigen
Theodorus einen so saftigen Hieb, daß er rückwärts ins
Männerklo taumelt. Letzteres ist sein großes Glück, weil nur
das Männerklozeichen die schäumende Marianne davon abhält, ihm
den Rest zu geben. Fünf Minuten später - Marianne hat sich
wutschnaubend zu Frau Bezelmann ins Sekretariat verzogen - linst Theodorus
vorsichtig aus dem Männerklo. Ich bedeute ihm, daß die Luft rein ist
und spendiere ihm sogar zwei Schmetterlingspflaster, um die große
Platzwunde auf seiner Stirne notdürftig zu
schließen.
- "Mein Sohn", sagt er und schüttelt traurig den Kopf, wie er so
blutüberströmt in meinem Büro sitzt, "mein Sohn, das war gar
nicht nett von Ihnen."
"Stimmt", sage ich, "ich sagte ja auch nur, daß ich versuche, meistens
die Wahrheit zu sagen. Ich sagte nicht, daß ich nett wäre."
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