Ich schlendere gerade ziellos durch den LEERstuhl, nur damit ich während
meiner offiziellen Sprechstunde nicht in der Nähe meines Büros
anzutreffen bin, als ich Frau Bezelmanns charakteristisch-unterkühlte
Stimme aus dem Sekretariat höre. Wenn Frau Bezelmann die S-Laute mit
dreifacher Länge und fünffacher Lautstärke ausspricht ("Dasss
issst ssso!"), dann macht sie entweder gerade einen Studenten fertig, der es
gewagt hat, ohne anzuklopfen ins Sekretariat einzudringen, oder sie spricht mit
dem Chef.
- Da ich nix Besseres zu tun habe, klopfe ich höflich an und tue so, als
ob ich dringend mal wieder den Büromaterialschrank plündern
müßte. Frau Bezelmann steht in Kampfhaltung hinter ihrer
Schreibtischburg, die Brillengläser blitzen angriffslustig, während
sich der Rabe Nero strategisch günstig auf der Kaffeemaschine platziert
hat, um von dem Spaß ja nicht zu verpassen. Der Chef steht ratlos mitten
im Sekretariat und hält in den ausgestreckten Händen eine Akte. Eine
ganz ordinäre, graue Akte. 'SCHWAFEL Abrechnung' steht
drauf.
- Der Chef sagt: "Äh ...", aber Frau Bezelmann läßt ihn
nicht zu Wort kommen.
"Diessser Aktenordner hat EINdeutig negative Ausssssstrahlungen! Ich werde
NICHT dulden, daßß er hier im Sssekretariat bleibt und meine AURA
verbiegt!!!"
- Der Chef und ich, wir gucken beide auf den Ordner, der ganz harmlos
aussieht - wenn man mal vom Inhalt absieht. Die Abrechnung des
SCHWAFEL-Projektes ('Semi Conducting Hyper Wavelets ...') ist seit Jahren
ein notorisch bekanntes Schreckgespenst für alle Buchhalter der
Uni-Verwaltung.
- "Aber ... ähm ...", beginnt der Chef zaghaft, "man
könnte ihn doch ganz da hinten im Regal ..."
"NEIN!"
"Wie kommen Sie eigentlich darauf, daß der Ordner negative Ausstrahlungen
hat?" versuche ich zu vermitteln.
- Frau Bezelmann zieht aus ihrer riesigen schwarzen Handtasche ein Paar
L-förmig gebogene Kupferdrähte und packt mit jeder Hand je einen
Draht am kürzeren Schenkel, so daß die längeren Enden gerade
nach vorne zeigen. Dann stampft sie entschlossen auf den Chef zu, der
unwillkürlich einen Schritt zurückweicht. Als sie mit den
Drähten über dem besagten Ordner angekommen ist, kreuzen sich diese
schlagartig nach innen - und der Chef läßt reflexartig den
Ordner auf den Boden fallen.
- "Sssehen Ssie!!! Ein ganz extrem negativesss
Energiefeld!"
Der Chef beobachtet nervös die Akte am Boden. "Vielleicht ...
äh ... vielleicht sollten wir ... ähm ... Sie ...
äh ... die Akte in den Keller ...?
- Aber Frau Bezelmann erklärt kategorisch, daß sie 'diesssess
Anti-Aura-Objekt' nicht mehr anfassen werde, und nimmt einen ihrer
'Aufgeladenen Steine' vom Schreibtisch, um sich vor der negativen Strahlung des
SCHWAFEL-Ordners zu schützen. Der Chef schaut mich an, aber ich weise
ruhig auf meinen Bandscheibenvorfall hin, der erst drei Monate
zurückliegt, und daß ich mich deshalb leider nicht nach dem schweren
Ordner bücken könne. Daß ich den Bandscheibenvorfall nur
simuliert hatte, um längeren Urlaub zu bekommen, braucht hier ja niemand
zu wissen.
Genau im richtigen Moment kommt der Kollege O. herein, um seine Post von Frau
Bezelmanns Postkaktus zu pflücken. Frau Bezelmann wechselt einen raschen
Blick des Einverständnisses mit dem Chef und bittet den Kollegen O. mit
zuckersüßer Stimme, doch bitte den Ordner ins Archiv hinter der
Bibliothek zu bringen.
Der Kollege O. guckt zuerst den Ordner, dann mißtrauisch geworden Frau
Bezelmann an. Wenn Frau Bezelmann zwitschert wie eine Lerche, ist normalerweise
Gefahr im Verzug, das weiß inzwischen jeder hier am LEERstuhl, der die
ersten drei Wochen unverletzt überstanden hat. Hilfesuchend wendet er sich
an den Chef und mich, aber ich suche plötzlich verzweifelt nach
Schreibpapier mit Trauerrand, und der Chef blättert konzentriert in einem
Stapel uralter vergilbter Faxe.
- "Na, schön", knurrt der Kollege O. schließlich, klaubt den
Ordner vom Boden auf und geht hinaus. Alle im Sekretariat Verbliebenen atmen
erleichtert auf.
- Von draußen hört man einen Schrei, wie er in der neuen
DooM-Version für die ganz üblen verendenden Monster verwendet wird.
Der Chef, Frau Bezelmann, der Rabe und ich, wir stürzen wie ein Mann auf
den Gang und sehen als erstes den SCHWAFEL-Ordner ganz unschuldig mitten im
Flur liegen. Dahinter sehen wir den Kollegen O. - oder vielmehr das,
was von ihm noch sichtbar ist. Sein Kopf steckt in einem Plastikpapierkorb
fest, welcher wiederum wie ein Keil unter Frau Bezelmanns Monster-Kopierer
festgekeilt ist. Der Kopierer ist ein Stück den Gang hinuntergefahren und
hat den Wasserhahn abgeschert, aus dem die Putzfrau immer ihre Eimer
füllt. Die vordere Wartungsklappe des Kopierers ist aufgesprungen und der
Toner rieselt in einem schleimig- schwarzen Strom auf den hilflosen O.,
der verzweifelt mit Armen und Beinen rudert und im rasch steigenden
Wasserspiegel nach Luft schnappt. Wie immer bei solchen Gelegenheiten, reagiert
'Das Ding aus einer anderen Welt' (= Frau Bezelmanns Kopierer) mit dem
unkontrollierten, massenweisen Ausstoß von Papier, das den Flur alsbald
in eine malerische verschneite Winterlandschaft mit Kohlengrube im Vordergrund
verwandelt.
- "Mein Gott!" schreit Marianne, die sich mühsam durch den
Papierschnitzelsturm zu uns durchkämpft. "Ich hab's genau gesehen. Der
Ordner ist ihm aus der Hand gerutscht, dann ist er drüber gestolpert und
unter dem 'Ding' gelandet!"
- Irgendjemand ist so geistesgegenwärtig, den Strom abzuschalten, so
daß es auch noch stockdunkel wird.
Erst nach einer halben Stunde gelingt es uns, den B.H.f.H. zu finden (er sitzt
wie üblich beim Frühschoppen im Atzinger), damit er das Wasser
abdreht. Der Kollege O., inzwischen aus seiner beklemmenden Lage befreit,
sieht aus, als ob man ihn komplett mit Anzug und Kravatte in ein
Tintenfaß getaucht hätte. Der Flur ist über und über mit
schwarzen Tonerflecken besprenkelt. Alle Angestellten und Studenten klagen
über versaute Kleidung - außer Frau Bezelmann und Nero, die wie
immer nur schwarz tragen. Bloß der SCHWAFEL-Ordner liegt unbeschadet auf
einem Fleckchen mitten im Gang, das mysteriöserweise vollkommen trocken
geblieben ist.
Frau Bezelmann ist in exaltiertester 'Ich-habs-ja-gleich-gesagt'-Stimmung und
erzählt jedem, der es hören will, und natürlich erst recht
allen, die es nicht hören wollen, von der negativen Ausssssstrahlung des
Ordners. An die besonders empfindsamen Naturen verteilt sie selbstlos
'Aufgeladene Steine' und Kupferringe aus ihrem Esoterik-Fundus, die man sich
zum Schutz um den Hals hängen kann. (Zwei Studentinnen müssen
später wegen Atemnot und Kupferallergie in die Hautklinik gebracht
werden.)
Zwei Wochen später beschwert sich der 'Oberste der Klingonen'
(= Leiter der Hausinspektion), daß bei uns im Flur
vorschriftswidrigerweise brennbares Material gelagert würde. Anklagend
deutet er auf den SCHWAFEL-Ordner, um den Yogi Flop inzwischen eine Art
Schutz-Zaun aus giftgelben Plastikstreifen errichtet hat. Die Plastikstreifen
hat er bei den ständigen Kabelbuddel-Arbeiten in der Amalienstraße
geklaut; 'Vorsicht Lichtleiterkabel' steht drauf.
(Und nur weil Yogi Flop fünf Meter Plastikstreifen geklaut hat, wird in
drei Jahren ein Baggerführer, der sich keiner Schuld bewußt sein
wird, den Hauptstrang des Münchner Back-Bones mit seiner Räumschaufel
durchtrennen. Abgesehen von unzähligen anderen Ereignissen, die durch den
damit verbundenen Ausfall des Internets verursacht werden, hat Herr Fridolin K.
aus Töppe deswegen das Pech, daß die Email an seine Verlobte
Franziska des Inhalts, daß er sie heute leider nicht wie ausgemacht in
die Oper ausführen könne, nicht zugestellt werden kann. Die Verlobung
geht deswegen natürlich in die Brüche (nichts verzeiht eine Verlobte
weniger, als stundenlang vergeblich im zugigen Opernfoyer zu warten!), und der
Sohn namens Kosmo, den sie eigentlich beide haben wollten und der endlich die
tatsächliche Frage auf die ganz große Antwort nach den Sein, dem
Kosmos und überhaupt allem finden sollte, wird nie geboren werden! Aber
das ist eine ganz andere Geschichte, mit der ich zum Glück überhaupt
nichts zu tun habe. Zurück zum 'Obersten der Klingonen'!) Anklagend also
deutet der 'Oberste der Klingonen' auf den Order mitten im Gang. Frau Bezelmann
erklärt ihm genüßlich, was es damit auf sich hat, und daß
sich niemand am LEERstuhl bereiterklärt hat, das verfluchte Ding auch nur
anzufassen.
Der 'Oberste der Klingonen' ist ein praktisch veranlagter Mann, der in
dreißig Dienstjahren an der Uni natürlich so seine Erfahrungen,
speziell mit den Akademikern, gemacht hat.
- "So ein Unsinn! Verrücktes Zeug!" schimpft er. "Und wenn jetzt eine
Inspektion der Brandschutzdirektion auftaucht?! Soll ich denen auch was von
'negativen Synergien' erzählen?!"
Frau Bezelmann zieht mißbilligend die Mundwinkel nach unten. "'Energien',
nicht 'Sssynergien'!" zischt sie
unterkühlt-verächtlich.
"Ist doch alles derselbe Schmarrn! Dann entsorge ich Ihren Ordner eben
eigenhändig in den Papiercontainer im Hof!"
- Als auf diese Drohung hin immer noch niemand der umstehenden Angestellten
Anstalten macht, den Ordner zu retten, schnappt sich der 'Oberste der
Klingonen' mit einem verächtlichen Schnauben den Ordner und stapft los in
Richtung Treppenhaus. Alle atmen erleichtert auf.
Fünfzehn Sekunden später hört man das Geräusch, wie wenn
eine überspannte Guitarrensaite reißt, durch den LEERstuhl
kreischen- nur tausendmal lauter. Gleich darauf erschüttert ein Erdbeben
der Stärke 4,5 auf der nach oben offenen Richterskala das
Gebäude.
Während die Feuerwehr sich mühsam zu dem abgestürzten Fahrstuhl
hinarbeitet, schließen Frau Bezelmann und ich Wetten ab, ob der Ordner
wiedermal alles unbeschadet überstanden hat ...
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