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20.06.2001 BASTARD   MAILING   LIST   © Florian Schiel
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Ich schlendere gerade ziellos durch den LEERstuhl, nur damit ich während meiner offiziellen Sprechstunde nicht in der Nähe meines Büros anzutreffen bin, als ich Frau Bezelmanns charakteristisch-unterkühlte Stimme aus dem Sekretariat höre. Wenn Frau Bezelmann die S-Laute mit dreifacher Länge und fünffacher Lautstärke ausspricht ("Dasss issst ssso!"), dann macht sie entweder gerade einen Studenten fertig, der es gewagt hat, ohne anzuklopfen ins Sekretariat einzudringen, oder sie spricht mit dem Chef.
Da ich nix Besseres zu tun habe, klopfe ich höflich an und tue so, als ob ich dringend mal wieder den Büromaterialschrank plündern müßte. Frau Bezelmann steht in Kampfhaltung hinter ihrer Schreibtischburg, die Brillengläser blitzen angriffslustig, während sich der Rabe Nero strategisch günstig auf der Kaffeemaschine platziert hat, um von dem Spaß ja nicht zu verpassen. Der Chef steht ratlos mitten im Sekretariat und hält in den ausgestreckten Händen eine Akte. Eine ganz ordinäre, graue Akte. 'SCHWAFEL Abrechnung' steht drauf. 
Der Chef sagt: "Äh ...", aber Frau Bezelmann läßt ihn nicht zu Wort kommen. 
"Diessser Aktenordner hat EINdeutig negative Ausssssstrahlungen! Ich werde NICHT dulden, daßß er hier im Sssekretariat bleibt und meine AURA verbiegt!!!" 
Der Chef und ich, wir gucken beide auf den Ordner, der ganz harmlos aussieht - wenn man mal vom Inhalt absieht. Die Abrechnung des SCHWAFEL-Projektes ('Semi Conducting Hyper Wavelets ...') ist seit Jahren ein notorisch bekanntes Schreckgespenst für alle Buchhalter der Uni-Verwaltung. 
"Aber ... ähm ...", beginnt der Chef zaghaft, "man könnte ihn doch ganz da hinten im Regal ..." 
"NEIN!" 
"Wie kommen Sie eigentlich darauf, daß der Ordner negative Ausstrahlungen hat?" versuche ich zu vermitteln. 
Frau Bezelmann zieht aus ihrer riesigen schwarzen Handtasche ein Paar L-förmig gebogene Kupferdrähte und packt mit jeder Hand je einen Draht am kürzeren Schenkel, so daß die längeren Enden gerade nach vorne zeigen. Dann stampft sie entschlossen auf den Chef zu, der unwillkürlich einen Schritt zurückweicht. Als sie mit den Drähten über dem besagten Ordner angekommen ist, kreuzen sich diese schlagartig nach innen - und der Chef läßt reflexartig den Ordner auf den Boden fallen. 
"Sssehen Ssie!!! Ein ganz extrem negativesss Energiefeld!" 
Der Chef beobachtet nervös die Akte am Boden. "Vielleicht ... äh ... vielleicht sollten wir ... ähm ... Sie ... äh ... die Akte in den Keller ...? 
Aber Frau Bezelmann erklärt kategorisch, daß sie 'diesssess Anti-Aura-Objekt' nicht mehr anfassen werde, und nimmt einen ihrer 'Aufgeladenen Steine' vom Schreibtisch, um sich vor der negativen Strahlung des SCHWAFEL-Ordners zu schützen. Der Chef schaut mich an, aber ich weise ruhig auf meinen Bandscheibenvorfall hin, der erst drei Monate zurückliegt, und daß ich mich deshalb leider nicht nach dem schweren Ordner bücken könne. Daß ich den Bandscheibenvorfall nur simuliert hatte, um längeren Urlaub zu bekommen, braucht hier ja niemand zu wissen. 
Genau im richtigen Moment kommt der Kollege O. herein, um seine Post von Frau Bezelmanns Postkaktus zu pflücken. Frau Bezelmann wechselt einen raschen Blick des Einverständnisses mit dem Chef und bittet den Kollegen O. mit zuckersüßer Stimme, doch bitte den Ordner ins Archiv hinter der Bibliothek zu bringen. 
Der Kollege O. guckt zuerst den Ordner, dann mißtrauisch geworden Frau Bezelmann an. Wenn Frau Bezelmann zwitschert wie eine Lerche, ist normalerweise Gefahr im Verzug, das weiß inzwischen jeder hier am LEERstuhl, der die ersten drei Wochen unverletzt überstanden hat. Hilfesuchend wendet er sich an den Chef und mich, aber ich suche plötzlich verzweifelt nach Schreibpapier mit Trauerrand, und der Chef blättert konzentriert in einem Stapel uralter vergilbter Faxe. 
"Na, schön", knurrt der Kollege O. schließlich, klaubt den Ordner vom Boden auf und geht hinaus. Alle im Sekretariat Verbliebenen atmen erleichtert auf. 
Von draußen hört man einen Schrei, wie er in der neuen DooM-Version für die ganz üblen verendenden Monster verwendet wird. Der Chef, Frau Bezelmann, der Rabe und ich, wir stürzen wie ein Mann auf den Gang und sehen als erstes den SCHWAFEL-Ordner ganz unschuldig mitten im Flur liegen. Dahinter sehen wir den Kollegen O. - oder vielmehr das, was von ihm noch sichtbar ist. Sein Kopf steckt in einem Plastikpapierkorb fest, welcher wiederum wie ein Keil unter Frau Bezelmanns Monster-Kopierer festgekeilt ist. Der Kopierer ist ein Stück den Gang hinuntergefahren und hat den Wasserhahn abgeschert, aus dem die Putzfrau immer ihre Eimer füllt. Die vordere Wartungsklappe des Kopierers ist aufgesprungen und der Toner rieselt in einem schleimig- schwarzen Strom auf den hilflosen O., der verzweifelt mit Armen und Beinen rudert und im rasch steigenden Wasserspiegel nach Luft schnappt. Wie immer bei solchen Gelegenheiten, reagiert 'Das Ding aus einer anderen Welt' (= Frau Bezelmanns Kopierer) mit dem unkontrollierten, massenweisen Ausstoß von Papier, das den Flur alsbald in eine malerische verschneite Winterlandschaft mit Kohlengrube im Vordergrund verwandelt. 
"Mein Gott!" schreit Marianne, die sich mühsam durch den Papierschnitzelsturm zu uns durchkämpft. "Ich hab's genau gesehen. Der Ordner ist ihm aus der Hand gerutscht, dann ist er drüber gestolpert und unter dem 'Ding' gelandet!" 
Irgendjemand ist so geistesgegenwärtig, den Strom abzuschalten, so daß es auch noch stockdunkel wird. 
Erst nach einer halben Stunde gelingt es uns, den B.H.f.H. zu finden (er sitzt wie üblich beim Frühschoppen im Atzinger), damit er das Wasser abdreht. Der Kollege O., inzwischen aus seiner beklemmenden Lage befreit, sieht aus, als ob man ihn komplett mit Anzug und Kravatte in ein Tintenfaß getaucht hätte. Der Flur ist über und über mit schwarzen Tonerflecken besprenkelt. Alle Angestellten und Studenten klagen über versaute Kleidung - außer Frau Bezelmann und Nero, die wie immer nur schwarz tragen. Bloß der SCHWAFEL-Ordner liegt unbeschadet auf einem Fleckchen mitten im Gang, das mysteriöserweise vollkommen trocken geblieben ist. 
Frau Bezelmann ist in exaltiertester 'Ich-habs-ja-gleich-gesagt'-Stimmung und erzählt jedem, der es hören will, und natürlich erst recht allen, die es nicht hören wollen, von der negativen Ausssssstrahlung des Ordners. An die besonders empfindsamen Naturen verteilt sie selbstlos 'Aufgeladene Steine' und Kupferringe aus ihrem Esoterik-Fundus, die man sich zum Schutz um den Hals hängen kann. (Zwei Studentinnen müssen später wegen Atemnot und Kupferallergie in die Hautklinik gebracht werden.) 
Zwei Wochen später beschwert sich der 'Oberste der Klingonen' (= Leiter der Hausinspektion), daß bei uns im Flur vorschriftswidrigerweise brennbares Material gelagert würde. Anklagend deutet er auf den SCHWAFEL-Ordner, um den Yogi Flop inzwischen eine Art Schutz-Zaun aus giftgelben Plastikstreifen errichtet hat. Die Plastikstreifen hat er bei den ständigen Kabelbuddel-Arbeiten in der Amalienstraße geklaut; 'Vorsicht Lichtleiterkabel' steht drauf. 
(Und nur weil Yogi Flop fünf Meter Plastikstreifen geklaut hat, wird in drei Jahren ein Baggerführer, der sich keiner Schuld bewußt sein wird, den Hauptstrang des Münchner Back-Bones mit seiner Räumschaufel durchtrennen. Abgesehen von unzähligen anderen Ereignissen, die durch den damit verbundenen Ausfall des Internets verursacht werden, hat Herr Fridolin K. aus Töppe deswegen das Pech, daß die Email an seine Verlobte Franziska des Inhalts, daß er sie heute leider nicht wie ausgemacht in die Oper ausführen könne, nicht zugestellt werden kann. Die Verlobung geht deswegen natürlich in die Brüche (nichts verzeiht eine Verlobte weniger, als stundenlang vergeblich im zugigen Opernfoyer zu warten!), und der Sohn namens Kosmo, den sie eigentlich beide haben wollten und der endlich die tatsächliche Frage auf die ganz große Antwort nach den Sein, dem Kosmos und überhaupt allem finden sollte, wird nie geboren werden! Aber das ist eine ganz andere Geschichte, mit der ich zum Glück überhaupt nichts zu tun habe. Zurück zum 'Obersten der Klingonen'!) Anklagend also deutet der 'Oberste der Klingonen' auf den Order mitten im Gang. Frau Bezelmann erklärt ihm genüßlich, was es damit auf sich hat, und daß sich niemand am LEERstuhl bereiterklärt hat, das verfluchte Ding auch nur anzufassen. 
Der 'Oberste der Klingonen' ist ein praktisch veranlagter Mann, der in dreißig Dienstjahren an der Uni natürlich so seine Erfahrungen, speziell mit den Akademikern, gemacht hat. 
"So ein Unsinn! Verrücktes Zeug!" schimpft er. "Und wenn jetzt eine Inspektion der Brandschutzdirektion auftaucht?! Soll ich denen auch was von 'negativen Synergien' erzählen?!" 
Frau Bezelmann zieht mißbilligend die Mundwinkel nach unten. "'Energien', nicht 'Sssynergien'!" zischt sie unterkühlt-verächtlich. 
"Ist doch alles derselbe Schmarrn! Dann entsorge ich Ihren Ordner eben eigenhändig in den Papiercontainer im Hof!" 
Als auf diese Drohung hin immer noch niemand der umstehenden Angestellten Anstalten macht, den Ordner zu retten, schnappt sich der 'Oberste der Klingonen' mit einem verächtlichen Schnauben den Ordner und stapft los in Richtung Treppenhaus. Alle atmen erleichtert auf. 
Fünfzehn Sekunden später hört man das Geräusch, wie wenn eine überspannte Guitarrensaite reißt, durch den LEERstuhl kreischen- nur tausendmal lauter. Gleich darauf erschüttert ein Erdbeben der Stärke 4,5 auf der nach oben offenen Richterskala das Gebäude. 
Während die Feuerwehr sich mühsam zu dem abgestürzten Fahrstuhl hinarbeitet, schließen Frau Bezelmann und ich Wetten ab, ob der Ordner wiedermal alles unbeschadet überstanden hat ...
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