---
17.03.2005 BASTARD   MAILING   LIST   © Florian Schiel
zurück 
Communication
Geriatric Tsunami weiter 
Coupons
---  
Die galoppierende Vergreisung unserer Gesellschaft stellt nicht nur Gerhard, Angela und Kohorten vor immer neue Probleme. Auch an der Uni hat man seine liebe Not damit. Nicht etwa weil die Studenten inzwischen solange studieren, daß sie bereits vergreisen (obwohl das sicher auch lustig wäre), sondern weil immer mehr Senioren nach Erreichen der Frührente plötzlich entdecken, daß sie irgendwann mal in grauer Vorzeit auch so etwas ähnliches wie ein Abitur erworben und daher Anspruch auf einen Seniorenstudienplatz haben. 
(Meiner bescheidenen Meinung nach sollte das Abi ein Verfallsdatum haben wie der neue Führerschein, aber auf mich hört ja sowieso niemand.) 
Blöderweise hat irgendein Bastard-Fan jenseits der Halbwertszeit (man möchte es nicht glauben, aber so etwas gibt es!) in irgendeinem Senioren-Chat über meine Einführungsveranstaltung geschwärmt. Und als ich nach den viel zu kurzen Semesterferien verkatert in die erste Stunde wanke, sehe ich zu meinem Erstaunen die erste Bankreihe, die normalerweise IMMER frei bleibt, dicht besetzt mit Kommilitonen des Seniorenstudiums. Edle Brillengläser mit minus acht Dioptrien blitzen im grellen Licht der Hörsaallampen; an der Seitenwand reihen sich ein halbes Dutzend funkelnde geriatrische Gehhilfen sowie ein batteriebetriebener Rollstuhl; auf der ersten Bank stapeln sich Medizinfläschchen, Tablettenpackungen und Gebißreinigungsgerätschaften; einer hat sogar ein batteriebetriebenes Inhaliergerät dabei, das leise vor sich hin röchelt (das Inhaliergerät, nicht der Rentner!). 
Ich gehe langsam nach vorne, hieve mein beeindruckendes, mindestens 1000-seitiges Manuskript aufs Katheder und räuspere mich bedeutungsvoll. 
"Ähem ... hrrrm ... hrrrrrrm ..." 
(Dreimal dürft ihr raten, von wem ich das gelernt habe. Ich habe lange zu Hause vor dem Spiegel geübt, damit ich das so beeindruckend hinkriege wie der Chef.) 
Traditionell benutze ich die erste Stunde damit, ein Horrorszenario von Semesterüberblick vom Stapel zu lassen, 'nur damit Sie von vorneherein wissen, was auf Sie zukommt'. Normalerweise reduziert sich dann in der zweiten Stunde die Zuhörerschaft auf ein halbes Prozent, und wenn ich ganz großes Glück habe, fällt die Veranstaltung wegen mangelnder Teilnahme ganz aus. 
Nach einem letzten Blick in mein umfangreiches Manuskript - es handelt sich im hinteren Teil um die original russische Gebrauchsanleitung von Frau Bezelmanns Panzerfaust - hole ich tief Luft und sage: 
"Guten Morgen, meine Damen und Herren. Ich begrüße Sie zur 'Einführung in die kosmologisch-relativistische Tensoroptik'! Wir werden in den nächsten Stunden ..." 
Ein kosmologisch-relativistischer Hustenanfall aus der ersten Reihe nimmt mir den Wind aus den Segeln. Der Kommilitone mit dem Inhaliergerät hat offensichtlich vor Aufregung vergessen zu inhalieren. Seine bronchialen Eruptionen würden jeder mittelalterlichen Schwindsucht-Anstalt zur Ehre gereichen. Ein ehrfurchtsvolles Raunen geht durchs Auditorium, während ich vorsichtshalber per Handy einen Notarzt anfordere. Als wir noch auf ein Nachlassen des respiratorischen Krampfs warten, ertönt am anderen Ende der ersten Reihe eine gellende Keifstimme: 
"Häh?! Was sagt er, Gerhard?! Was hat der Professor gesagt?! Wieso redet er nicht mehr, häh?!" 
Ein winziges Männlein mit weißhaarig umkränzten Glanzschädel, einen weißen Schal zweimal um den Hals gewunden, bemüht sich über den hohen Hörsaaltisch zu spähen. Sein Nachbar, der mindestens 25 Jahre jünger und trotzdem schon im Rentenalter ist, versucht ihn mit leiser Stimme zu beruhigen: 
"Du mußt dein Hörgerät einschalten, Konrad. Und brüll' nicht so laut!" 
"Häh?!" 
"Hörgerät einschalten!!!" 
Der winzige Rentner fummelt hinter seinem Ohr herum, und ein leises, aber penetrantes Dauerpiepsen erfüllt plötzlich den ganzen Hörsaal. 
"Ich glaube, Ihr Hörgerät hat eine Rückkoppelung", 
sage ich. 
"Häh?! Was sagt er, Gerhard?!" 
Ich gehe hinüber und wiederhole: 
"Ihr Hörgerät ist falsch eingestellt! Es hat eine Rückkoppelung! Sie müssen ..." 
"Häh?! Was sagen Sie?! Reden Sie doch deutlicher! Sind Sie der Professor?! Ein Professor muß doch deutlich sprechen, sonst versteht man nicht, was, Gerhard?!" 
Im hinteren Bereich des Hörsaals ertönt mühsam unterdrücktes Gekicher. Ich muß der Sache ein Ende machen, sonst leidet am Ende noch mein Ruf als strenger Dozent. 
"Ihr Hörgerät quietscht, weil es falsch eingestellt ist!!! Geben Sie mal her!!!" 
brülle ich, so laut ich kann. 
"Häh?! Sie brauchen nicht so laut zu pfeifen! Mein Hörgerät funktioniert ausgezeichnet!" 
Die Studenten brüllen vor Lachen. 
Mittels Zeichensprache bringe ich den Rentner endlich dazu, mir sein Hörgerät auszuhändigen. Ich tue so, als ob ich an den winzigen Einstellrädchen herumschrauben würde und nehme unauffällig die Batterien heraus. 
"So, probieren Sie jetzt mal ... besser nicht wahr?" 
"Häh?!" 
"Viel besser, nicht wahr!!!" 
brülle ich. 
Der winzige Rentner bestätigt begeistert, umständlich und lautstark, daß er tatsächlich auf einmal viel besser höre. Dann wiederholt er das Ganze noch zweimal für seinen 'jungen Freund Gerhard'. 
Inzwischen haben Sanitäter den kosmischen Hustenanfall abgeholt, aber bevor ich den verlorenen Faden wieder aufnehmen kann, bricht hinten bei den Stehplätzen ein Tumult aus. 
Schrille Schmerzensschreie gellen durch den Hörsaal. Blutende Studenten flüchten den Mittelgang herunter oder ducken sich hinter die letzte Stuhlreihe. Im Zentrum des Aufruhrs steht eine tonnenförmige Rentnerin in blaßblauem Blümchenkleid, massivem Straßsteincollier und grauen Dutt. Sie stützt sich schwer auf ihre linke Titan-Krücke und läßt die rechte wie Conans Keule über ihrem Kopf kreisen. 
"Ich werd' euch ... da hast du's! ...", 
- ein Student, der nicht schnell genug ausweichen kann, bekommt den mit Eiskrallen bestückten Gummifuß der Krücke über die Backe gezogen -, 
"ich werd' euch lehren, mit älteren Leuten so respektlos umzugehen! Ihr Bengel! Machen einfach keinen Platz! Rüpelhaftes Pack! Verlauste Gammler!" 
Letzteres bezieht sich vermutlich auf den derzeit wieder aktuellen Langhaarschnitt der männlichen Studenten. Um dem Gemetzel ein Ende zu setzen, sprinte ich nach hinten und versuche, die renitente Seniorin auf den frei gewordenen Platz der kosmisch-respiratorischen Katastrophe führen. 
"Rühren Sie mich nicht an!" 
schnappt sie wütend. 
"Wer sind Sie denn? Der Pedell?" 
Ich erkläre unter dem Gelächter der Studenten, daß es an unserer Universität schon lange keine Pedelle mehr gäbe und daß ich der Dozent der Veranstaltung sei. 
"Ein Dozent! Hah! Zu meiner Zeit gab es nur richtige Professoren! Aber dafür sind Sie sowieso viel zu jung ..." 
Endlich ist die Ordnung soweit wieder hergestellt, daß ich meine traditionelle Horrorübersicht fortsetzen kann. Leider verliert selbst das schlimmste und mit mathematischen Unmöglichkeiten gespickte Semesterprogramm seine abschreckende Wirkung, wenn man dauernd und mitten im Satz mit absolut hirnrissigen Fragen und Bemerkungen unterbrochen wird. 
"Häh?! Was sagt er, Gerhard?!" 
"Wieso 'komisch'? Was ist denn daran komisch?" 
"Er meint 'kosmisch'! Nicht 'komisch'!" 
"Irgendwo zieht's hier!" 
"Häh?! Was sagt er, Gerhard?!" 
"Was ist denn ein Acksjom? Können Sie das mal erklären?" 
"Häh?! Was sagt er? Warum schreibt er das nicht an die Tafel? Professoren schreiben doch sonst alles an die Tafel ..." 
"Finden Sie nicht, daß es hier zieht? Ich muß sehr achtgeben wegen meinem Rheuma ..." 
"Häh?! Was sagt er, Gerhard?!" 
Ein Gebiß fällt klappernd zwischen die Stuhlreihen. 
"Und was hat das mit Spülmitteln zu tun?" 
"Hat jemand ein paar Ersatzbatterien dabei?" 
"Wo ist die nächste Toilette? Mein Katheterbeutel ist voll!" 
"Kommt der Einstein auch vor?" 
"Also, ich finde, daß es hier abscheulich zieht! Ein Skandal ist das!" 
"Wissen Sie, ob es heute in der Mensa ein Diabetiker-Gericht gibt?" 
"Häh?! Was sagt er, Gerhard?!" 
Nach der ersten Sunde bin ich vollkommen mit den Nerven fertig. Was Generationen von aufsässigen Studenten nicht geschafft haben, erledigen zwölf renitenten Senioren im Handumdrehen - und sie merken es nicht einmal! 
Sofort nach der Veranstaltung rufe ich bei der Hörsaalvergabestelle an. So und so, erläutere ich der überraschten Sachbearbeiterin. Ob ich denn meine LEERveranstaltungen in den alten Turmhörsaal verlegen könne? 
"Weil ... errr ... weil wir ein paar Experimente mit kosmischer Strahlung machen wollen ... und die Strahlung in unserem jetztigen Seminarsaal ist zu schwach ... Sie verstehen ..." 
Die Sachbearbeiterin versteht nicht, aber das ist auch egal. 
"Das ist überhaupt kein Problem. Den Turmhörsaal will sowieso sonst niemand haben. Ich werde das sofort im Vorlesungsverzeichnis ändern. Ehrlich gesagt, sind Sie der erste Dozent, der diesen Hörsaal haben will; alle anderen haben sich immer nur beschwert, weil es darin so zieht und er so weit vom Schuß ist." 
Das wird sich vermutlich bald ändern, denke ich, während ich erleichtert den Hörer auf die Gabel werfe und meine Schutzschilde hochfahre. Spätestens dann, wenn die geriatrische Tsunami auch auch alle anderen Seminare und Vorlesungen überschwemmt hat, werden meine lieben Kollegen rasch begreifen, welchen unschätzbaren Vorteil der alte Turmhörsaal hat: er liegt im siebten Stock und er hat keinen Aufzug!
---
zurück 
Communication
zur B.M.L. Homepage   zum Seitenbeginn weiter 
Coupons
---
Copyright © Florian Schiel