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16.12.2001 BASTARD   MAILING   LIST   © Florian Schiel
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Montag Morgen. Ich gucke 'The Godfather II', um mich auf die neue Woche einzustimmen. Wirklich schade, daß Kalaschnikows heutzutage an der Uni nicht mehr gern gesehen werden ... 
Nach der ersten DVD fühle ich mich ein wenig eleven-clockish und verlasse mein Allerheiligstes um nachzuschauen, ob Marianne vielleicht noch Kekse in ihrem Büro herumliegen hat. Während ich noch mit dem Dietrich an Mariannes Tür 'rumfummele, bemerke ich einen Typen in schwarzer Kutte durch den Gang auf mich zu wanken. Er ist nicht sehr groß, nicht sehr robust, sehr bleich mit einer hohen Stirn, die irgendwie an Frankensteins Monster erinnert. Dieser Eindruck wird noch dadurch unterstrichen, daß sein ganzes Gesicht mit blutigen Kratzern übersäht ist. Der Typ tupft die schlimmsten Stellen vorsichtig mit einem nicht mehr ganz frischen Taschentuch ab, während er weiter auf mich zu stolpert. 
Nun leben in unserem Gebäude, wie schon mehrfach erwähnt, immer noch auch ein ganzer Haufen Theologen unterschiedlichster Ausprägung: Moraltheologen, Militärtheologen, Alttestamentler, Schismatiker, Neutestamentler, Augustiner und Franziskaner (nicht zu verwechseln mit den Brauereien!), um nur einige zu nennen. Gestalten in Kutten oder hanfenen Lendenschurz, die sich mit Geißeln peinigen, sind daher keine unbedingte Neuigkeit. Trotzdem geht von den Typen in der schwarzen Kutte eine bestimmte Aura aus, die mich neugierig macht. Wie um meinen Gedanken zu bestätigen, nimmt der Typ einen Palm aus der Innentasche seiner Kutte und macht ein paar rasche Eintragungen, während ihm das Blut vorne in die Kutte tropft. Ein Theologe mit Palm? Die üblichen Gottesschüler haben gerade erst mitbekommen, daß das Telefon mit Drehscheibe erfunden wurde!
"Ich grüße Sie", sage ich neutral. "Schönes Wetter heute, nicht wahr?" 
Der Typ hebt den Kopf und wischt statt einer Antwort noch einmal über seine zerfetzte Stirn. 
"Nein, gar nicht", sagt er dann mit metallischer Stimme. "Es regnet sogar gerade." 
"Stimmt. Aber manche Leute finden auch Regen ganz schön, nicht wahr?" 
Der Typ überlegt eine Sekunde, dann nickt er. 
"So gesehen, könnte man sagen, daß es für bestimmte Leute heute schönes Wetter ist, ja." 
Er nickt dreimal befriedigt mit dem Kopf und faltet sein blutiges Taschentuch dreimal zusammen und steckt es in die Tasche. 
"Äh ... darf ich fragen, was mit Ihnen passiert ist? Ein Unfall?" 
Der Typ wirft sich in Pose: "Nein, ich glaube nicht, daß man das als Unfall bezeichnen könnte. Ein Frau hat mir das Gesicht zerkratzt, nachdem ich versucht hatte ihr zu erklären, daß die Wahrheit das höchste Gut ist, das es zu wahren gilt. Die Liebe zur Wahrhaftigkeit ist die letzte große Berufung des Christenmenschen. Alles Böse wäre eitel, wenn alle Menschen durch und durch wahrhaftig wären. Ich bin Bruder Theodorus, der Verfechter der absoluten reinen Wahrheit." 
"Interessant", sage ich. "Das alles haben Sie der Frau auch gesagt, und dann hat sie einfach so Ihr Gesicht zerkratzt?" 
"Äh ... ja ... nein ... ich mußte ihr auch noch in aller Wahrheit sagen, daß ihre Schminke eine einzige Lüge darstelle, und daß sie daher davon ablassen und in sich gehen und in Zukunft der Wahrheit nachfolgen solle ... Außerdem waren ihre Schuhe grauenhaft!" 
"Ah, ich verstehe!" 
"Wirklich?" fragt Theodorus und taxiert mich mit scharfem Blick. 
"Oh ja, ich versuche auch, immer die Wahrheit zu sagen." 
Theodorus seufzt und hebt den Blick kurz zur spinnwebenverhangenen Decke. 
"Mein Sohn, das ist nun entweder die Wahrheit oder eine ganz dreiste Unwahrheit. Und wer bin ich, daß ich den Dingen auf den letzten Grund blicken könnte. Aber Sie sollten meinen Ratschlag auch befolgen, mein Sohn: sei wahrhaftig durch und durch!" 
"Ich werd's mir überlegen, Bruder. Darf ich frage, welchem Orden Sie angehören? Ihr Habit kommt mir nicht bekannt vor ..." 
"Dem Orden der wahrhaftigen Brüder, mein Sohn!" 
"Ehrlich gesagt: nie gehört. Haben Sie viele Mitglieder?" 
"Ich bin Ordensgründer und einziges Mitglied" erwidert Bruder Theodorus würdevoll. 
"So! Warum denn?" 
Bruder Theodorus wirft mir einen Blick zu, den ein billiger Romanautor 'bedeutsam' nennen würde. 
"Bis jetzt hat leider niemand außer mir es vollbracht, vollkommen in der Wahrheit leben." 
"Aha? Ich sehe, daß Sie tatsächlich immer die Wahrheit sagen, Bruder." 
"Selbstverständlich, mein Sohn. Die Wahrheit ..." 
In diesem Moment kommt Marianne vom Shopping zurück. Sie strahlt mich an: "Oh, Leisch! Du glaubst es nicht, was ich gerade ergattert habe ... ein absoluter unglaublicher Glücksfall ... solche Pumps suche ich schon seit über zwei Jahren ... und unglaublich günstig: keine 300 Mark ... schau dir das bloß an ... sind die nicht ganz phantastisch?" 
In Windeseile angelt Marianne, trotz daß sie alle Hände voll Einkaufstüten und ihren Posaunenkasten auf den Rücken geschnallt hat, einen lila Schuhkarton heraus, stellt zwei abgrundtief geschmacklose, glänzende, pinke Ungetüme vor uns auf den Boden und zwängt ihre zu großen Füße in die spitzigen Folterwerkzeuge. 
"Na? Was sagst du nun ...?" 
"Äh ...", sage ich verzweifelt, "äh ... wie finden Sie denn die Schuhe, mein lieber Bruder Theodorus?" 
Bruder Theodorus schielt ziemlich unglücklich auf die Schuhe herab. Er ist übrigens gut einen Kopf kleiner als Marianne. Theodorus holt tief Luft und kneift fest die Augen zusammen: 
"Diese Schuhe sind abgrundtief geschmacklose, glänzende, pinke Ungetüme und für Ihre Füße viel zu klein, meine Tochter!" 
Marianne läßt vor Schreck alle Tüten fallen. "Waaas?!" kreischt sie und mit einer einzigen fließenden Bewegung, die auf mehrjährige Kampferfahrung schließen läßt, zieht sie den Posaunenkasten über die linke Schulter und verpaßt dem wahrhaftigen Theodorus einen so saftigen Hieb, daß er rückwärts ins Männerklo taumelt. Letzteres ist sein großes Glück, weil nur das Männerklozeichen die schäumende Marianne davon abhält, ihm den Rest zu geben. Fünf Minuten später - Marianne hat sich wutschnaubend zu Frau Bezelmann ins Sekretariat verzogen - linst Theodorus vorsichtig aus dem Männerklo. Ich bedeute ihm, daß die Luft rein ist und spendiere ihm sogar zwei Schmetterlingspflaster, um die große Platzwunde auf seiner Stirne notdürftig zu schließen. 
"Mein Sohn", sagt er und schüttelt traurig den Kopf, wie er so blutüberströmt in meinem Büro sitzt, "mein Sohn, das war gar nicht nett von Ihnen." 
"Stimmt", sage ich, "ich sagte ja auch nur, daß ich versuche, meistens die Wahrheit zu sagen. Ich sagte nicht, daß ich nett wäre."
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