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20.09.1999 BASTARD   MAILING   LIST   © Florian Schiel
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Einer der ganz großen Vorteile der modernen Bürotechnik sind die automatischen Kalenderfunktionen. Kaum jemand ist sich bewußt, wie einfach es ist, fremde Kalenderdateien zu lesen. Auf diese Weise komme ich an viele interessante Informationen, wie z.B. daß Frau Bezelmann seit neuesten an einem Kurs in bolivianischen Dschungelnahkampf teilnimmt. In Zukunft werde ich strikt einen Sicherheitsabstand von zwei Metern einhalten! 
Beim Kollegen O. ist jeden Donnerstag abends ein nicht weiter spezifizierter Termin eingetragen. Zuerst vermute ich eine Liebelei mit einer Studentin dahinter; eine genauere Analyse seiner email der letzten Monate ergibt jedoch, daß O. sich für einen Volkshochschulkurs 'Nähen von Spitzenunterwäsche' eingeschrieben hat. 
Aus dem Kalender des Chefs ersehe ich, daß morgen die Deadline für die Anträge im neuen EU-Rahmenprogramm ist. EU-Projekte sind für Uni-Assistenten ungefähr so nützlich wie Knoblauch für Vampire. Deshalb hacke ich mich kurz in den Abrechnungscomputer der Stadtwerke und fummele ein wenig an der Kundendatei des Chefs herum. Danach sieht es tatsächlich so aus, als ob der Chef seit nunmehr exakt neun Monaten seine Stromrechnung nicht mehr bezahlt hätte. Der Abrechnungscomputer wird daher, brav seinen eigenen Gesetzen folgend, heute um Mitternacht den Strom abstellen, und morgen bekommt der Chef dann seinen Wagen nicht aus der Garage, weil er nur ein elektrisches Garagentor hat. Da der Chef seine Anträge immer auf den allerletzten Drücker schreibt, sprich am Tag der Abgabe, haben wir somit eine recht gute Chance, für diesmal verschont zu bleiben. 
Vorausschauend planen! Das sage ich auch immer wieder zu meinen Studenten: man kann sich unendlich viel Arbeit ersparen, wenn nur etwas vorausschauend arbeitet! 
Um den langweiligen Semesterferienalltag etwas aufzupeppen, vertausche ich noch alle Rendezvous von Marianne und Jenny in der nächste Woche und verschiebe alle übrigen Termine um eine Stunde nach hinten. Später kann ich dann immer noch alles auf die Sommerzeit schieben. Bei der Gelegenheit sehe ich auch, daß Marianne für morgen das lang ersehnte Ende ihrer bescheuerten Finite-Elemente-Simulationen eingetragen hat. Seit 4 (in Worten vier!) Monaten nervt mich Marianne mit ihren CPU-fressenden Monsterprozessen, die ausgerechnet auf meinem geheiligten DooM-Server laufen müssen. Sie hat mir hoch und heilig geschworen, mich an den Eiern aufzuhängen, falls ich in der Zeit auch nur irgend etwas mit dem Server anstellen würde. 
Mein eigener Kalender klingelt und erinnert mich daran, daß ich dem Chef versprochen habe, heute noch ein Job-Interview mit einem neuen Kandidaten für das SCHWAFEL-Projekt zu führen. Wenn man sich's genau überlegt, war das wohl nicht ganz so schlau vom Chef, denn ein neür Mitarbeiter bedeutet, ich muß eine Workstation bereitstellen, einen Account einrichten, eine Mailbox ... kurz: nix als unnötige Arbeit! 
Ich gehe nach vorne ins Sekretariat, wo der Kandidat, ein blasses Jüngelchen mit prominenten Adamsapfel und unmöglicher Krawatte, unter den wachsamen Blicken Frau Bezelmanns und Neros bereits vor lauter Nervosität einen Anzugsknopf nach dem anderen abdreht. Ich führe ihn in mein Büro und sage, daß ich nur noch ganz kurz ein Fax abholen müsse. Dann gehe ich hinüber in den Rechnerraum und aktiviere die Webcam in meinem Büro, so daß ich ihn ungestört beobachten kann. Erst mal lasse ich ihn noch drei Minuten im eigenen Saft schmoren; dann initiiere ich Test No. 19: Ich leite den Kernel des Servers bei voller Lautstärke auf die Audiokarte. Das akustische Resultat liegt irgendwo in der Mitte zwischen einem Alarmstart des Space Shuttle und der letzten Berliner Love Parade komprimiert auf 10 Minuten. 
Der Kandidat hopst 20 Zentimeter in die Höhe und verstreut dabei seine ganzen Bewerbungsunterlagen auf dem Boden. Ein paar Sekunden lang starrt er mit seinen hervortretenden Augen auf den Server, dann macht er einen großen Schritt hinter meinen Schreibtisch und guckt vorsichtig aufs Display. 'SEVERE SERVER PANIC' blinkt es mit großen Buchstaben quer über die Console. 'SOFORT NETZSTECKER ZIEHEN!' 
Der Lärm ist wirklich ohrenzerberstend; sogar hier im Rechnerraum kann ich ihn noch mühelos hören. Der Kandidat zaudert ein paar Sekunden, geht zur Türe und guckt auf den Gang; aber da ist auch niemand. Schließlich gibt er sich einen Ruck und zieht tatsächlich den Netzstecker des Servers (oder das, was er dafür hält!). Der infernalische Lärm bricht sofort ab, geht aber übergangslos in das nervenzerfetzende Heulen der verdammten Seelen aus 'Insel der Würger-Zombies III' über. Gleichzeitig beginnen dicke rote Tropfen langsam über die X-Console des Servers zu laufen. Das Heulen blendet langsam über in ein grauenhaftes Röcheln, das ich vor ein paar Monaten im Büro des Kollegen Rinzling aufgenommen habe, als dieser sich einbildete, an finalem Staubmilben-Asthma zu leiden. Das Röcheln erstirbt langsam, während das Display immer dunkler wird und schließlich erlischt. 
Der Kandidat ist völlig mit den Nerven fertig. Der Schweiß plätschert in wahren Bächen von seiner Stirne, mit der Linken zerrt er krampfhaft an seiner unmöglichen Krawatte, mit der Rechten hält er immer noch das Netzkabel des Servers umklammert. 
In diesem Moment stürmt Marianne wutschnaubend in mein Büro, weil sie natürlich mitbekommen hat, daß alle ihre gehätschelten Prozesse inzwischen gewaltsam gekillt wurden. Da der Kandidat der einzige in meinem Büro ist und immer noch das Netzkabel in der Hand hält, hat sie keinerlei Probleme den vermeintlichen Übertäter zu lokalisieren, und geht mit ihren lila lackierten Fingernägeln auf ihn los. Ich rase hinüber in mein Büro und es gelingt mir tatsächlich, das blutleere Bürschchen noch weitgehend intakt Mariannes Klauen zu entreißen. Wir flüchten uns in die Bibliothek und schließen die Türe hinter uns ab. 
"Um Gottes Willen, Mann!" rufe ich laut, um das wütende Gehämmere Mariannes an der Bibliothekstüre zu übertönen, "Was haben Sie bloß mit Marianne angestellt?! Sind Sie ihr etwa ... äh ... etwas zu nahe getreten?!" 
Der Kandidat betupft mit den Resten seiner zerfetzten Bewerbungsunterlagen seine aufgeplatzte Lippe und stottert unzusammenhängendes Zeug über 'Panik' und 'Blutstropfen'. 
"Ja, das sehe ich, daß Sie bluten", sage ich, "am besten Sie gehen mal ganz schnell hinunter in die Veterinärmedizin. Da finden Sie vielleicht einen Weißkittel, der Sie wieder zusammen flickt. Im übrigen glaube ich wirklich, Sie sollten sich besser woanders nach einer Doktorandenstelle umschaün. Marianne hat in diesen Dingen ein Gedächtnis wie ein Elefant ..."
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